86 KINDERHAUS *
... in jedem Wohnbezirk gibt es hunderte Kinder. Insbesondere kleineren Kindern wird mit den Mustern KINDER IN DE STADT (57) und SPIELEN MIT ANDEREN KINDERN (68) der Zugang zum öffentlichen Leben erleichtert. Diese sehr allgemeinen Vorkehrungen in Form von öffentlichen Flächen müssen jedoch durch eine Art von gemeinschaftlichem Bereich ergänzt werden, wo sie je nach Bedarf für ein paar Stunden oder ein paar Tage ohne ihre Eltern bleiben können. Das folgende Muster ist ein Bestandteil des NETZWERKS DES LERNENS (18) für Kleinkinder.
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Das Betreuen kleiner Kinder ist eine viel tiefgreifendere und bedeutungsvollere soziale Aufgabe, als die Bezeichnungen „Babysitting" und „Kinderkrippe" vermuten ließen.
In einer Gesellschaft, in der die Mehrzahl der Kinder unter der Obhut von Alleinerziehern oder Paaren ist, muß Müttern und Vätern natürlich die Möglichkeit geboten werden, ihre Kinder beaufsichtigen zu lassen, während sie arbeiten oder Freunde treffen. Zu diesem Zweck gibt es Kindergrippen oder Babysitter. So stellt sich die Situation gewissermaßen aus Sicht der Erwachsenen dar.
Die ebenso dringlichen Bedürfnisse der Kinder bleiben'dabei unbefriedigt. Sie brauchen über ihre Eltern hinaus Kontakt zu anderen Erwachsenen und Kindern; diese Begegnungen mit anderen Erwachsenen und Kindern sollten sehr vielschichtig und umsichtig ablaufen und ebenso komplex und intensiv wie das Familienleben sein — nicht bloß „Schulen", „Kindergärten" und „Spielplätze".
Wenn man sich die Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen näher ansieht, stellt sich klar heraus, daß der Wohnbezirk eine neue Einrichtung bräuchte: ein Kinderhaus, wo Kinder,Tag und Nacht sicher sind und gut betreut werden, mit der gesamten Bandbreite an Möglichkeiten und sozialen Aktivitäten zum Hineinwachsen in die Gesellschaft beitragen.
In den früher üblichen Großfamilien wurden diese Bedürfnisse bis zu einem gewissen Teil befriedigt. Die Vielzahl von ;Erwachsenen und Kindern mit unterschiedlichem Alter wirkte sich positiv auf die Kinder aus. Sie lernten die verschiedensten Lebenslagen kennen und konnten ihre Bedürfnisse nicht nur mit Hilfe von zwei, sondern mehreren Menschen stillen.
Obwohl diese Art der Familie mehr und mehr am Verschwinden ist, wird nach wie vor an der Vorstellung festgehalten, daß Kindererziehung allein Aufgabe der Familie und insbesondere der Mütter ist. Das ist jedoch nicht mehr machbar. Philip Slater erörtert im folgenden die Probleme einer kleinen Kernfamilie, die ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ein oder 'zwei Kinder richtet:
Tür die neue Elterngeneration sind materielle Besitztümer und Erfolg im Beruf vielleicht nicht mehr so wichtig wie für ihre eigenen Eltern. Sie lenken den elterlichen Eifer in andere Bahnen und spornen ihre Kinder dazu an, herausragende Künstler, Schauspieler oder Intellektuelle zu werden. Aber der harte narzistische Kern der alten Kultur wird so lange nicht aufbrechen, bis die Eltern-Kind-Beziehung nicht ihrer :Intensität beraubt ist ...
Um dieses Erziehungsmodell aufzubrechen, braucht es Gemeinschafei, in denen a) Kinder nicht nur von den Eltern sozialisiert werden, und b) Eltern ein eigenes Leben führen können und nicht nur durch ihre Kinder einen Lebensinhalt erhalten (The Pursuit of Loneliness, Boston: Beacon Press, 1971, S. 141-142).
Unser Vorschlag für ein Kinderhaus sieht einen Ort vor, an dem die intensive Eltern-Kind-Beziehung dadurch gelockert wird, daß das Kind echte soziale Beziehungen zu einigen anderen Erwachsenen und vielen anderen Kindern eingeht.
- Baulich gesehen handelt es sich um ein großes, geräumiges Haus mit einem weitläufigen Garten.
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Das Haus liegt in Gehentfernung von den Wohnungen der Kinder. Terence Lee hat herausgefunden, daß Kinder, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen, mehr lernen als jene, die mit dem Bus oder Auto kommen. Dahinter steckt ein einfacher, interessanter Mechanismus. Kinder, die zu Fuß gehen oder radfahren, bleiben mit dem Boden in Berührung und sind dadurch in der Lage, eine Reihe von Erkennungsmerkmalen für die Strecke von ihrem Zuhause zur Schule festzulegen. Kinder, die im Auto zur Schule kommen, wechseln wie: auf einem fliegenden Teppich in Windeseile von einen Ort zum andern und können diese Erkennungsmerkmale, die ihr Zuhause mit der Schule verbinden, nicht erstellen. Sie fühlen sich in der Schule ganz und gar verlassen und fürchten unter Umständen sogar, ihre Mutter verloren zu haben. (T. R. Lee, „On the relation between the school journey and social and emotional adjustment in rural infant children", Britisch Journal:of Educational Psychology, 27: IOI, 1957.)
- Die Kernbelegschaft besteht aus zwei oder drei Erwachsenen, die das Haus führen; mindestens einer von ihnen, aber besser noch mehrere leben auch dort. Es ist also für mehrere Leute ein richtiges Zuhause; es wird nicht abends geschlossen,
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Die Eltern teilen ihr Haus mit den Kindern, die kommen und gehen können, wie sie wollen, und manchmal für eine Stunde oder einen Nachmittag kommen oder auch ein ,paar Tage bei ihren Eltern leben.
- Die Bezahlung könnte anfangs nach Stunden geregelt wer den. Wenn man von einer Grundgebühr von einem Dollar.pro Stunde ausgeht und annimmt, daß ein Kind durchschnittlich 20 Stunden pro Woche im Haus verbringt, bräuchte man für Monatseinnahmen von rund 2500 Dollar ungefähr 30 Kinder als Mitglieder.
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Als Hauptanliegen des Hauses gilt die Erziehung .der Kinder in einem erweiterten familiären Umfeld. So könnten sich beispielsweise jeden Tag ein paar Leute aus der Umgebung zu Kaffeerunden im Kinderhaus zusammenfinden und sich dabei unter die Kinder mischen.
- Dementsprechend sollte das Haus selbst relativ offen angelegt sein, mit einem durch das Grundstück verlaufenden, öffentlichen Weg. Silverstein hat darauf hingewiesen, daß Kinder die erste Zeit in der Schule nicht so stark als von .der Gesellschaft „getrennt" empfinden, wenn ihre Spielbereiche .zu Hause allen vorbeikommenden Erwachsenen und Kindern .öffenstehen. (Murray Silverstein, „The Child's Urban Envirornment", Bericht über die 71. Bundesversammlung des Eltern- und Lehrerkongresses, Chicago, Illinois, 1967, S. 39-45.)
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Für die Sicherheit und gleichzeitig größtmögliche Freiheit der Kleinkinder, ohne sie dabei ganz aus den Augen zu verlieren, können Spielflächen auch in einer leichten Senke und.-von einer niedrigen Mauer umgeben liegen. Ist die Mauer höhe, werden die Leute darauf Platz nehmen — so können sie den Kindern beim Spielen zusehen, und die Kinder können sich mit Passanten unterhalten.
Dieses Muster der Kinderhäuser hat sich bereits in einer weitaus extremeren Form, als hier beschrieben, bewährt: In vielen Kibbuzim werden Kinder in gemeinschaftlichen Kinder-den erzogen und besuchen ihre Eltern nur für ein paar Stunden pro Woche. Der Erfolg dieser extremen Version sollte eigentlich alle Zweifel über das Funktionieren einer weitaus milderen Version, wie wir sie vorschlagen, ausräumen.
Daraus folgt:
Bau in jeder Nachbarschaft ein Kinderhaus - ein zweites Zuhause für Kinder, ein großes, weiträumiges Haus oder eine Arbeitsstätte -, einen Ort, an dem Kinder ein oder zwei Stunden oder auch eine Woche lang bleiben können. Mindestens einer, der das Haus führt, sollte dort auch leben; es muß rund um die Uhr offen sein und Kindern aller Altersstufen offen stehen; aus der Art, wie es geführt wird, muß klar hervorgehen, daß es eine zweite Familie für Kinder ist, und nicht nur ein Ort, an dem Babysitting angeboten wird.
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Betrachte das Gebäude als eine Ansammlung von kleinen, miteinander verbundenen Gebäuden - GEBÄUDEKOMPLEX (95); leg einen von den Ortsansässigen häufig benützten Weg direkt durch das Gebäude an, so daß Kinder, die keine Mitglieder-sind, es sehen und durch den Kontakt mit den Kindern im. Haus kennenlernen - PASSAGE DURCHS GEBÄUDE (101); verbinde es mit dem lokalen ABENTEUERSPIELPLATZ (73); behandle die Lehrerwohnung als einen wesentlichen Bestandteil des Inneren - DAS EIGENE HEIM (79); und betrachte den gemeinschaftlichen Raum selbst als den Mittelpunkt einer größeren Familie - DIE FAMILIE (75), GEMEINSCHAFTSBEREICHE IN DER MITTE (129) ...
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