18 NETZWERK DES LERNENS *
... ein anderes Netz, nicht ein bauliches wie das des Verkehrs, sondern ein gedankliches, ebenso wichtiges, ist das Netzwerk des Lernens: die tausenden Gegebenheiten einer Stadt, die miteinander in Zusammenhang stehen und die in Wirklichkeit den "Lehrplan" der Stadt beinhalten: die Lebensart, die sie ihren jungen Menschen vermittelt.
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In einer Gesellschaft, die besonderen Wert auf den Unterricht legt, werden Kinder und Studenten - und Erwachsene - passiv und unfähig, selbständig zu denken und zu handeln. Schöpferische, aktive Individuen können nur in einer Gesellschaft aufwachsen, die dem Lernen mehr Gewicht beimisst als dem Lehren.
Wir müssen nichts zur Kritik der öffentlichen Schulen hinzufügen. Diese Kritik ist umfassend und kaum zu ergänzen. Die Vorgänge des Lernens und Lehrens sind ebenfalls erschöpfend studiert worden... Die Frage ist, was man tun soll. (George Dennison: Lives of Children, New York: Vintage Books, 1969, S. 3.)
Bis heute stammt die gründlichste Analyse und der umfassendste Vorschlag für einen alternativen Rahmen des Bildungssystems von Ivan Illich in seinem Buch "Entschulung der Gesellschaft"
und seinem Artikel "Education without Schools: How It Can Be Done", in der New York Review of Books, New York, 15 (12): 25-31, special supplement, Juli 1971.
Illich beschreibt einen Lernstil, der dem der Schulen genau entgegengesetzt ist. Er ist besonders auf die reichhaltigen Lernmöglichkeiten abgestimmt, die in jedem Großstadtgebiet auf natürliche Weise vorhanden sind:
Die Alternative zu einer Kontrolle der Gesellschaft durch die Schule besteht in freiwilliger Teilnahme an der Gesellschaft mittels "Netzwerken", die Zugang zu allen Lernquellen bieten. Tatsachlich gibt es diese Netzwerke bereits, aber sie werden selten für Bildungszwecke genützt. Die Krise des Schulwesens wird - wenn sie denn zu etwas gut sein soll - unweigerlich dazu führen, daß es Teil eines umfassenden Bildungsprozesses wird ....
Schulen beruhen auf der Vermutung, daß jedes Ding im Leben ein Geheimnis birgt; daß die Qualität des Lebens von der Kenntnis dieses Geheimnisses abhängt; daß man Geheimnisse nur in der richtigen Reihenfolge kennenlernen kann; und daß nur Lehrer diese Geheimnisse auf die rechte Weise offenbaren können. Wer einen geschulten Kopf hat, stellt sich die Welt als eine Pyrarnide aus klassifizierten Paketen vor, zu der Zugang nur hat, wer die richtigen Preisschilder trägt. Neue Bildungseinrichtungen würden diese Pyramide aufbrechen. Ihr Ziel muß sein, dem Lernenden den Zugang zu erleichtern: ihm einen Blick in die Fenster des Kontrollraums oder Parlaments zu gestatten, wenn er schon nicht durch die Tür hineingelangen kann. Außerdem sollten solche neuen Einrichtungen Kanäle sein, zu denen der Lernende ohne Beglaubigung oder Stammbaum Zutritt erhält: Öffentliche Räume, in denen ihm Gleichaltrige und Altere außerhalb seines engsten Umkreises zur Verfügung stehen ...
Während die Verwalter von Netzwerken sich vor allem darauf konzentrieren würden, Straßen zu bauen und zu unterhalten, die zu den Bildungsmöglichkeiten hinführen, würde der Pädagoge dem Schüler bei der Suche nach dem Weg helfen, der ihn am schnellsten an sein Ziel bringt. Möchte ein Student von einem chinesischen Nachbarn Kanton-Chinesisch lernen, so würde der Pädagoge dazu da sein, den Stand ihrer Kenntnisse zu beurteilen und ihnen 'bei der Auswahl des Lehrbuches und der Methoden behilflich zu sein, die ihrer Begabung, ihrem Charakter und der ihnen zur Verfügung stehenden zeit am angemessensten sind. Er könnte einem angehenden Flugzeugmechaniker bei der Suche nach der besten Lehrstelle behilflich sein. Jemandem, der anregende Partner für Gespräche über die Geschichte Afrikas sucht, könnte er Bücher empfehlen. Ebenso wie der Verwalter des Netzwerkes würde der pädagogische Berater sich selbst als hauptberuflichen Erzieher verstehen. Zutritt zu beiden sollten die einzelnen Lernenden durch Bildungsgutscheine erhalten....
Ergänzend zu den vorläufigen Schlußfolgerungen des Berichtes der Carnegie-Kommission hat das letzte Jahr eine Reihe von wichtigen Stellungnahmen hervorgebracht, die zeigen, daß sich verantwortliche Menschen. der Tatsache bewußt werden, daß Unterricht um eines Zeugnisses willen nicht mehr die zentrale erzieherische Einrichtung einer modernen Gesellschaft sein kann. Julius Nyere aus Tansania hat angekündigt, die Erziehung ins Dorfleben zu integrieren. In Kanada hat die Wright-Kommission für Weiterbildung berichtet, daß keines der bekannten formalen Bildungssysteme den Bürgern von Ontario gleiche Chancen gewährleisten kann. Der Präsident von Peru hat die Empfehlung seiner Bildungskommission aufgegriffen, wonach das freie Schulwesen zugunsten von freien, das ganze Leben begleitenden Bildungsmöglichkeiten abgeschafft werden soll. Es wird sogar berichtet, daß er darauf besteht, das Programm vorerst langsam einzuführen, um die Lehrer an den Schulen und von den wahren Erziehern fernzuhalten ....
(Auszug aus: Ivan Illich, Deschooling Society, Vol. 44 in World Perspectives Series, ed. by Ruth Nanda Anshen, New York Harper & Row, 1971; dt.: Entschulung der Gesellschaft, München: Kösel, 1972)
Kurz, ein so radikal dezentralisiertes Bildungssystem entspricht der städtischen Struktur selbst. Menschen kommen aus den verschiedensten Lebensumständen und halten Stunden über Dinge, die sie kennen und lieben: Fachleute und Arbeitsgruppen bieten Lehrgänge in ihren Büros und Werkstätten, alte Leute geben weiter, was ihre Lebensarbeit und ihr Lebensinteresse gewesen ist, Spezialisten unterweisen in ihren Spezialgebieten. Leben und Lernen sind eins. Man kann sich leicht vorstellen, daß schließlich in jedem dritten oder vierten Haushalt mindestens eine Person irgendwelche Stunden oder Übungen hält.
Daraus folgt:
Statt der Sackgasse der Pflichtschulausbildung an einem festen Ort bau Stück für Stück Elemente ein, die den Lernprozeß dezentralisieren, und bereichere diesen Lernprozeß durch vielfache Kontakte mit Stellen und Leuten in der ganzen Stadt: Werkstätten, Lehrer im Hause oder ambulant in der Stadt, Berufstätige, die bereit sind, junge Leute als Gehilfen aufzunehmen, ältere Kinder, die jüngere Kinder unterrichten, Museen, Jugendreisegruppen, wissenschaftliche Seminare, Fabriken, alte Leute usw. Faß all diese Situationen als Rückgrat des Lernprozesses auf; erhebe alle diese Situationen, beschreibt sie und gib sie zusammengefaßt als den "Lehrplan" der Stadt heraus; dann lass Studenten, Kinder, deren Familien und Nachbarschaften für sich jene Situationen zusammenstellen, die ihre "Schule" ausmachen. Bezahlt wird jeweils mit Standardgutscheinen, die von Gemeindesteuern aufgebracht werden. Gründe neue Erziehungseinrichtungen, die dieses Netzwerk erweitern und bereichern.
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Fördere vor allem Seminare und Werkstätten in Wohnungen - WERKSTATT IM HAUS (157); sieh in jeder Stadt einen "Pfad" vor, wo kleine Kinder sicher allein wandern können - KINDER IN DER STADT (57); bau eigene öffentliche "Heime" für Kinder, mindestens eines in jeder Nachbarschaft - KINDERHAUS (86); schaff viele arbeitsorientierte kleine Schulen in den Arbeits- und Geschäftsvierteln der Stadt - LADENSCHULEN (85); veranlaß Teenager, eine eigene selbstverwaltete Lerngesellschaft zu bilden - TEENAGER-GESELLSCHAFT (84); betrachte die Universität als verstreute Erwachsenenbildungsstätte für alle Erwachsenen der Region - UNIVERSITÄT ALS OFFENER MARKT (43); und verwende die wirkliche Arbeit der Berufstätigen und Geschäftsleute als die Knotenpunkte des Netzwerks - MEISTER UND LEHRLINGE (83) ...
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