70 GRABSTÄTTEN *

 

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... dem LEBENSZYKLUS (26) entsprechend müssen die Lebensstationen einer Person in der Gemeinschaft bewußt erkennbar sein. Der Tod ist keine Ausnahme. Das folgende Muster trägt dazu bei, die Tatsache des Todes in den öffentlichen Raum jeder Nachbarschaft zu integrieren und - durch sein bloßes Vorhandensein - IDENTIFIZIERBARE NACHBARSCHAFTEN (14) zu bilden, GEHEILIGTEN BODEN (66) und GEMEINSCHAFTSFLÄCHEN (67) zu schaffen.

 

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Wer dem Tod den Rücken kehrt, lebt nicht. Die Gegenwart der Toten unter den Lebenden ist eine all. tägliche Tatsache in einer Gesellschaft, die ihre Mit. glieder zum Leben ermutigt.

 

Riesige Friedhöfe am Stadtrand oder an Orten, die nie jemand besucht, unpersönliche Begräbnisfeierlichkeiten, Tabus, die Kindern die Tatsache des Todes verheimlichen: Wie in einer Verschwörung wird die Tatsache des Todes von uns Lebenden ferngehalten. In einer modernen Stadtrandsiedlung ist es nicht erstrebenswert, einen Friedhof in der Nähe des Hauses zu haben. Der Gedanke hat etwas Erschreckendes. Aber nur, weil wir nicht mehr daran gewöhnt sind. Gesund werden wir erst sein, wenn Gräber von Freunden und Familie, Gedenkstätten für Menschen der nahen und fernen Vergangenheit in kleinen Friedhöfen mit unseren Wohnstätten vermischt sind, so natürlich wie der Winter stets vor dem Frühling kommt.

In jeder Kultur gibt es eine Art intensiver Zeremonien um den Tod, um die Totentrauer, um die Beseitigung des Körpers. Es gibt tausende von Variationen; der Sinn besteht aber stets darin, der Gemeinschaft der überlebenden Freunde die Möglichkeit zu geben, sich mit den Tatsachen des Todes abzufinden: der Leere, dem Verlust - der eigenen Vergänglichkeit.

Diese Zeremonien vermitteln Menschen die Erfahrung der Sterblichkeit - und auf diese Weise bringen sie uns nicht nur näher zu den Tatsachen des Todes, sondern auch zu denen des Lebens. Sind diese Erfahrungen einmal in der Umwelt und im Leben jedes Menschen integriert, dann können wir sie voll durchleben und dann weiterschreiten. Wenn aber die Verhältnisse und Gebräuche die Erfahrung der Sterblichkeit und des Lebens mit ihr verhindern, bleiben wird deprimiert, beeinträchtigt, weniger lebendig. Dafür gibt es zahlreiches klinisches Beweismaterial.

In einem beschriebenen Fall verlor ein Junge seine Großmutter; um „seine Gefühle zu schonen", sagte ihm seine Umgebung, sie sei bloß „weggegangen". Dem Jungen war quälend bewußt, daß etwas geschehen war, konnte es jedoch in dieser ,abstrakten Atmosphäre der Geheimhaltung nicht erkennen, was es wirklich war und es deshalb auch nicht wirklich erleben. Statt „geschont" zu werden, wurde er das Opfer einer massiven Neurose, die erst viele Jahre später geheilt wurde, als er schließlich die Tatsache des Todes seiner Großmutter erkannte und durchlebte.

Dieser und andere Fälle, die überdeutlich belegen, daß eine Person den Tod von geliebten Menschen so vollständig wie :möglich durchleben muß, um emotionell gesund zu bleiben, wurden von Eric Lindemann beschrieben. Die entscheidene bibliographische Angabe dieser Arbeit ist uns verlorengegangen, aber zwei andere Artikel von Lindemann laufen auf das-Selbe hinaus: „Symptomatology and Management of Acute Grief", American Journal of Psychiatry, 1944, 101, S. 141-148; und „A Study of Grief: Emotional Responses to Suicide", Pastoral Psychology, 1953, 4(39), S. 9-13. Wir empfehlen auch einen jünrgeren Aufsatz von Robert Kastenbaum über die Art, wie Kinder ihre Sterblichkeit erforschen: „The Kingdom Where Nobody Dies", Saturday Review, Januar 1973, S. 33 — 38.

  

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Ein Betonwaben-Friedhof in Colma, Kalifornien. Der Leiter des Friedhofs sagte: „Die Familien sehen das Absenken nicht .... das sie in den älteren Teilen des Friedhofs so erschüttert hat ..."

 

In den großen Industriestädten wurden in den letzten, 100 Jahren die Todeszeremonien und ihre funktionelle Wirkung auf die Lebenden vollständig ausgehöhlt. Was früher schölle einfache Formen der Trauer waren, wurde durch groteske Friedhofsanlagen, Plastikblumen — durch alles außer der Wirklichkeit des Todes ersetzt. Und vor allem sind die kleinen Friedhöfe, die einen täglichen Kontakt mit der Tatsache des Todes herstellten, verschwunden. Sie wurden durch Massenfriedhöfe, weit weg vom Alltag der Menschen, ersetzt.

Wie kann man die Dinge wieder ins Lot bringen? Wir können das Problem lösen, indem wir einige der alten Riten mit den Situationen, die wir heute vorfinden, verschmelzen.

  1. Am wichtigsten ist es, den Maßstab moderner Friedhöfe aufzubrechen und die Verbindung zwischen Begräbnisstätten und lokalen Gemeinden wieder herzustellen. Äußerste Dezentralisierung: Eine Person kann eine Grabstelle für sich selbst auswählen — in einem Park, einer Gemeinschaftsfläche, auf eigenem Grund.

  2. Die richtige Anlage bedarf einer gewissen Umschließung; Wege entlang der Grabstätten; die Gräber müssen sichtbar sein, geschützt durch niedrige Mauern, Geländekanten, Bäume.

  3. Eigentumsrechte. Es muß eine gesetzliche Grundlage geben, kleine Bodenflächen zu „weihen" — zu garantieren, daß der von einer Person ausgewählte Boden nicht mehr verkauft oder bebaut wird.

  4. Bei zunehmender Bevölkerung ist es natürlich unmöglich, immer mehr Boden mit Gräbern oder Gedenkstätten zu bedecken. Wir schlagen eine Vorgangsweise ähnlich der in traditionellen griechischen Dörfern vor. Die Friedhöfe nehmen eine vorbestimmte Fläche ein, die für die Toten von 200 Jahren ausreicht. Nach 200 Jahren werden die Überreste im Meer versenkt — außer von jenen, deren Andenken noch lebendig ist.

  5. Das Ritual selbst muß von einer Gruppe mit bestimmten gemeinsamen Werten ausgehen, wenigstens von einer Familie, vielleicht einer Gruppe mit gemeinsamer religiöser Einstellung. Drei rituelle Grundelemente sind: Freunde, die den Sarg in einer Prozession durch die Straßen tragen; ein einfacher Kiefernholzsarg oder eine entsprechende Urne; die Versammlung rund um das Grab.

 

Daraus folgt:

Bau niemals Massenfriedhöfe. Widme vielmehr Grundstücke über die ganze Gemeinde verstreut als Grabstätten - Ecken von Parkanlagen, Abschnitte von Wegen, Gärten, neben Eingangstoren - wo Gedenkstätten für Verstorbene mit Inschriften und Hinweisen auf Leben angelegt werden können. Versieh jede Grabstätte mit einer Einfassung, einem Weg, einer ruhigen Ecke, wo man sitzen kann. So entsteht bräuchlicheweise geweihter Boden.

 Eine Muster Sprache 70 GRABSTÄTTEN

 

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Leg sie womöglich an Stellen, wo es ruhig ist - RUHIGE HINTERSEITEN (59); sieh einen einfachen Sitz vor oder eine Bank unter einem Baum, wo Leute mit ihren Erinnerungen allein sein können - PLÄTZE UNTER BÄUMEN (171), PLÄTZE ZUM SITZEN (241) ...

 

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