159 LICHT VON ZWEI SEITEN IN JEDEM RAUM **

 

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... steht die Lage der wichtigsten Räume in einem Gebäude fest, müssen wir ihre tatsächliche Form bestimmen: und das geschieht im wesentlichen durch die Lage der Außenkante. Die Lage der Außenkante ist bereits durch die allgemeine Form des Gebäudes festgelegt — GEBÄUDEFLÜGEL MIT TAGESLICHT (107), POSITIVER AUSSENRAUM (106), LANGES SCHMALES HAUS (109), DACHKASKADE (116). Das folgende Muster ergänzt nun die Arbeit von GEBÄUDEFLÜGEL MIT TAGESLICHT (107), indem es jeden einzelnen Raum genau dort anlegt, wo er sein muss, um Licht zu bekommen. Dadurch bildet sich die Linie der Gebäudekante entsprechend der Lage der einzelnen Räume. Das darauffolgende Muster behandelt dann die Form der Kante.

 

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Wenn Menschen die Wahl haben, halten sie sich lieber in Räumen auf, die Licht von zwei Seiten haben, während Räume, die nur von einer Seite Licht haben, unbenutzt und leer bleiben.

 

Dieses Muster entscheidet vielleicht mehr als irgendein anderes Muster über Gelingen oder Misslingen eines Raums. Die Anordnung des Tageslichts in einem Raum und das Vorhandensein von Fenstern auf zwei Seiten sind etwas Wesentliches. Wenn man ein Zimmer mit Licht von nur einer Seite baut, kann man ziemlich sicher sein, daß das reine Geldverschwendung ist. Die Leute werden das Zimmer, wenn es sich vermeiden lässt, nicht betreten. Natürlich — wenn alle Räume nur Licht von einer Seite haben, müssen die Leute sie benutzen. Aber wir können annehmen, daß sie sich dort im Grunde nicht wohlfühlen, daß sie am liebsten gar nicht dort wären und gern wieder gehen würden — weil wir natürlich genau wissen, was die Leute tun, wenn sie die Wahl haben.

Unsere Untersuchungen auf diesem Gebiet sind eher formlos und im Laufe mehrerer Jahre entstanden. Die Problematik war uns seit längerem bewusst — wie vielen anderen Baumeistern auch. (Wir haben sogar gehört, daß „Licht von zwei Seiten" ein Lehrsatz der alten Beaux-Arts-Tradition.) Unsere Untersuchungsmethoden waren jedenfalls sehr einfach: In jedem Ge_ bände, in das wir kamen, prüften wir immer wieder nach, ob das Muster so stimmte. Vermieden die Menschen tatsächlich Zimmer, die nur von einer Seite Licht hatten, und zogen sie die zweiseitig beleuchteten vor - wie dachten sie über diese Frage?

Wir sind das Problem mit unseren Freunden durchgegangen, in Büros, in vielen Wohnungen - und die überwältigende Mehrheit maß dem Licht von zwei Seiten Bedeutung zu. Die Leute sind sich des Musters halb oder ganz bewusst - sie verstehen genau, was gemeint ist.

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Mit Licht von zwei Seiten ... und ohne.

 

Wem diese Nachweise zu sehr als vom Zufall bestimmt erscheinen, der sollte am besten selbst einmal Beobachtungen anstellen. Man muss dazu nur an dieses Muster denken und all die Gebäude, auf die man im Alltagsleben stößt, daraufhin überprüfen. Wir glauben, daß man auf diese Weise genauso wie wir feststellen wird, daß Räume, die man intuitiv als angenehm und freundlich empfindet, dieses Muster haben, und die, die man als unangenehm und unfreundlich empfindet, nicht. Kurz gesagt, kann man also allein anhand dieses Musters zwischen freundlichen und unbehaglichen Räumen unterscheiden.

Die Bedeutung dieses Musters rührt zum Teil von der sozialen Atmosphäre her, die es in einem Raum schafft. Zimmer mit natürlichem Licht von zwei Seiten erzeugen um Menschen und Gegenstände herum weniger Blendung; daher sieht man die Dinge nuancierter; und was am wichtigsten ist, man liest genau die feinen Veränderungen im Gesichtsausdruck einer Person und ihre Handbewegungen . . . und versteht dadurch besser, was sie sagen will. Licht von zwei Seiten ermöglicht den Menschen, einander zu verstehen.

In einem Raum mit Licht von einer Seite sind die Helligkeitsunterschiede auf Wänden und Fußböden sehr groß, sodaß der am weitesten vorn Fenster entfernte Teil des Raums im Vergleich zum nahe dem Fenster liegenden Teil unangenehm dunkel ist. Dazu kommt noch - da die Innenflächen des Raums wenig Licht reflektieren -, daß die Innenwand gleich neben dem Fenster normalerweise dunkel ist, was Unbehagen und Blendung beim Blick gegen das Fenster bewirkt. In einseitig belichteten Räumen verhindert die Blendung rund um die Gesichter der Leute, daß sie einander verstehen.

Wenn sich diese Blendung auch durch zusätzliche künstliche Beleuchtung oder entsprechend entworfene Fensterlaibungen verringern lässt, ist der einfachste und grundlegendste Weg, Blendung zu verhindern, jedem Raum zwei Fenster zu geben. Das Licht von jedem Fenster erhellt jeweils die neben dem anderen Fenster liegende Wand und verringert so den Kontrast zwischen diesen Wänden und der Himmelsfläche draußen. Für nähere Einzelheiten und Illustrationen siehe R. G. Hopkinson, Architectural Physics: Lighting, London: Building Research Station, 1963, S. 29, 103.

Ein ausgezeichnetes Beispiel für die völlige Mißachtung dieses Musters ist Le Corbusiers Wohnblock in Marseille. Jede einzelne Wohneinheit ist sehr lang und relativ schmal und wird nur von einem Ende - und zwar vom schmalen - aus beleuchtet. Die Räume sind unmittelbar bei den Fenstern sehr hell und überall sonst dunkel. Und als Folge dessen ist die durch den Hell-Dunkel-Kontrast um die Fenster herum entstehende Blendung äußerst störend.

Bei einem kleinen Gebäude ist es einfach, jedem Raum Licht in zwei Seiten zu geben: Bei einem Raum in jeder der vier Hausecken erledigt sich das Problem von selbst.

Um dieselbe Wirkung bei einem etwas größeren Haus zu erzielen, ist es notwendig, die Außenwände durch Winkel zu brechen und Ecken anzulegen. Das Nebeneinanderlegen von kleinen und großen Räumen hilft ebenso.

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Brich den Rand durch Winkel.

 

Bei einem noch größeren Gebäude könnte es sogar notwendig sein, im Grundriß eine Art von systematischen Erweiterungen einzubauen oder die Gebäudekante noch mehr zu brechen, damit jeder Raum Licht von zwei Seiten hat.

Aber egal wie ausgeklügelt wir den Grundriß machen oder wie sorgfältig wir die Gebäudekante dahinwinden - manchmal ist es natürlich trotzdem unmöglich. In diesen Fallen können die Räume unter zwei Bedingungen die Wirkung des Lichts von zwei Seiten erzielen. Erstens, wenn das Zimmer nicht sehr tief ist - nicht mehr als zirka 2,5 m - und mindestens zwei Fenster nebeneinander hat. Das Licht fällt von der hinteren Wand zurück und auf die Wand zwischen den beiden Fenstern, sodaß das Licht noch immer den blendungsfreien Charakter, wie bei zweiseitiger Belichtung hat.

Und wenn das Zimmer ganz einfach mehr als 2,5 m tief sein, muß, aber nicht von zwei Seiten beleuchtet werden kann, dann kann man das Problem lösen, indem man die Decke sehr hoch macht, die Wände ganz weiß malt und große, hohe Fenster in sehr tiefe Fensterlaibungen einsetzt, die die Blendung ausgleichen. Die Elisabethanischen Speisesäle und Wohnzimmer der Herrschaftshäuser in Georgia wurden oft so gebaut. Es ist aber nicht leicht, das richtig zu machen.

 

Daraus folgt:

Leg jeden Raum so an, daß er zumindest auf zwei Seiten an den Außenraum grenzt, und dann setz diese Außenwände Fenster, sodaß in jeden Raum natürliches Licht aus mehr als einer Richtung fällt.

 Eine Muster Sprache 159 LICHT VON ZWEI SEITEN IN JEDEM RAUM 1

 

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Lass dich von diesem Muster nicht zu allzu ausgefallenen ::Grundrissen hinreißen - sonst zerstörst du die Einfachheit des POSITIVEN AUSSENRAUMS (106), und wirst es beim Überdachen des Gebäudes schwer haben - ANORDNUNG DER DÄCHER (209). Denk daran, daß dieses Muster im wesentlichen auch mit Fenstern an einer Seite verwirklicht werden kann, wenn der Raum ungewöhnlich hoch ist, wenn er im Vergleich zur Länge der Fensterwand nicht tief ist, wenn er große Fenster und weißgestrichene Wände hat und massive, tiefe Fensterlaibungen, die sicherstellen, daß die großen Fenster mit dem Licht von draußen keine Blendung erzeugen.

Leg die einzelnen Fenster so an, daß sie einen schönen Ausblick bieten - FENSTER MIT BLICK AUF DIE AUSSENWELT (192), TÜREN UND FENSTER NACH BEDARF (221); und mach aus einem der Fenster im Zimmer etwas Besonderes, so daß sich um diese Stelle herum ein eigener Platz bildet - PLATZ AM FENSTER (180). Verwende TIEFE LAIBUNGEN (223) und GEFILTERTES LICHT (238) ...

 

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