EINE MUSTER-SPRACHE

STÄDTE - GEBÄUDE - KONSTRUKTION

Christopher Alexander, Sara Ishikawa, Murray Silverstein

mit Max Jacobson, Ingrid F. King, Shlomo Angel 

Für Verbreitung, Schulung und Ergänzung digitalisiert von:
THE PATTERN COMMUNITY - Institut zur Förderung menschengerechter Dörfer, Städte und Regionen

STÄDTE

Wir beginnen mit jenem Teil der Sprache, durch den eine Stadt oder Gemeinde definiert wird. Diese Muster können keinesfalls mit einem Schlag "entworfen" oder "gebaut" werden - nur geduldige und schrittweise Entwicklung, daraufhin angelegt, daß jede individuelle Maßnahme zur Entstehung dieser größeren, umfassenden Muster beiträgt, wird langsam und sicher über Jahre ein Gemeinwesen herbeiführen, das diese umfassenden Muster enthält. geduldige und schrittweise Entwicklung, daraufhin angelegt, daß jede individuelle Maßnahme zur Entstehung dieser größeren, umfassenden Muster beiträgt, wird langsam und sicher über Jahre ein Gemeinwesen herbeiführen, das diese umfassenden Muster enthält. 

GEBÄUDE

Hier werden die übergeordneten Muster ergänzt, die eine Stadt oder eine Gemeinde definieren. Wir beginnen jetzt jenen Teil der Sprache, die Gebäudegruppen und Einzelgebäuden ihre Form gibt, dreidimensional auf dem Grundstück. Das sind die Muster, die "entworfen" oder "gebaut" werden können - die Muster, die die einzelnen Gebäude und den Raum zwischen Gebäuden definieren. Zum ersten Mal behandeln wir Muster,die innerhalb der Kontrolle von Einzelpersonen oder kleinen Personengruppen liegen, die diese Muster in einem Zug realisieren können.

 

KONSTRUKTION

In dieser Phase haben wir einen vollständigen Entwurf für ein einzelnes Gebäude. Wenn die gegebenen Muster befolgt wurden,so hat man ein Schema der Räume, sei es mit Stecken auf dem Boden markiert oder auf einem Stück Papier - etwa aufeinen halben Meter genau. Man kennt die Höhe der Räume, die ungefähre Größe und Lage der Fenster und Türen, und man weiß ungefähr, wie die Dächer des Gebäudes und die Gärten anzuordnen sind.

Der nächste und letzte Teil der Sprache erklärt einem, wie man direkt aus diesem groben Raumschema ein baubares Gebäude macht, und erklärt auch im Detail, wie es zu bauen ist.

PROLOG

 

209.0

... angenommen, wir haben einen ungefähren, maßstäblichen Grundriß für jedes Stockwerk des Gebäudes. Dann weiß man auch ungefähr, wie die Dächer liegen werden, und zwar aus DACHKASKADE (116) und SCHÜTZENDES DACH (117); und man weiß, wo auf verschiedenen Ebenen Flachdächer für Dachgärten neben bestimmten Räumen sind - DACHGARTEN (118). Das folgende Muster zeigt, wie man zu einem detaillierten Dachgrundriß für ein Gebäude kommt, je nachdem, welchen Grundriß man gezeichnet hat, damit jene anderen Muster entstehen.

 

❖ ❖ 

 

Was für ein Dachgrundriß ergibt sich organisch aus der Natur des geplanten Gebäudes?

 

Aus den Überlegungen in FORM DES INNENRAUMS (191) wissen wir, daß in einem organischen Gebäude die Mehrzahl der Räume annähernd - nicht unbedingt perfekt - gerade Wände haben werden, weil nur dann die Form der Räume auf beiden Seiten der Wände positiv, konvex sein kann.

Aus ähnlichen Überlegungen wissen wir, daß die Mehrzahl der Winkel im Gebäude ungefähr - auch hier nicht exakt rechte Winkel sein werden, im Bereich zwischen 80° und 100°.

Wir wissen also, daß ein als natürlich zu bezeichnender Grundriß eine Vielfalt von Formen enthalten kann, Halbkreise, Achtecke usw., daß er aber zum Großteil aus ungefähren, nicht unbedingt genauen Rechtecken bestehen wird.

Schließlich wissen wir aus SCHÜTZENDES DACH (117), daß ganze Flügel womöglich unter einem Dach sein sollten und die gesamte Überdachung des Gebäudes sich aus flachen und geneigten oder gewölbten Dächern zusammensetzen sollte, mit dem Nachdruck auf den nicht flachen Dächern.

Wir können demnach das Problem, eine Anordnung von Dächern festzulegen, folgendermaßen beschreiben: wie können wir einen beliebigen Grundriß der oben beschriebenen Art mit einer Kombination von Dächern ausstatten, die den Mustern DACHKASKADE (116), SCHÜTZENDES DACH (117) und DACHGARTEN (118) entspricht?

Bevor wir das Verfahren der Dachausmittlung genauer erklären, wollen wir fünf, für dieses Verfahren grundlegende Annahmen treffen.

  1. Die geneigten Dächer können entweder wirklich geneigt sein oder Gewölbe mit einer gekrümmten Neigung oder auch Tonnengewölbe — wie in GEWÖLBTE DÄCHER (220) beschrieben. Die Vorgangsweise ist in allen drei Fällen dieselbe. (Für gekrümmte Dächer gilt als Neigung das Verhältnis Höhe zu Breite.)Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER
  2. Nehmen wir an, daß alle Dächer des Gebäudes, die nicht flach sind, ungefähr die gleiche Neigung haben. Für ein gegebenes Klima und eine gegebene Dachkonstruktion ist gewöhnlich eine bestimmte Neigung die beste; die Konstruktion wird dadurch sehr vereinfacht.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 1

  3. Da alle Dächer dieselbe Neigung haben, haben die Dächer über den höchsten Flügeln und/oder Räumen die höchsten Firste; die über den kleineren Flügeln und Räumen sind relativ niedriger. Das stimmt überein mit HAUPTGEBÄUDE (99), DACHKASKADE (116) und VERSCHIEDENE RAUMHÖHEN (190).Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 2
  4. An allen Stellen, wo das Gebäude einen Außenraum oder Hof umschließt, muß es eine gerade Traufenlinie haben, sodaß es den Raum eines „Zimmers" bildet. Eine unregelmäßige Dachkante, etwa mit Giebelfronten, zerstört gewöhnlich den Raum eines kleinen Hofes. Es ist deshalb notwendig, an solchen Stellen die Dächer abzuwalmen, damit die Dachkante horizontal wird.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 3

  5. In allen anderen Fällen belaß die Abschlüsse von Gebäuden und Flügeln als Giebelfronten.209.1mit Text

    Behandeln wir nun die Regeln für die Dachausmittlung eines Gebäudes am Beispiel eines Hauses, das von einem Laien unter Verwendung der Muster-Sprache entworfen wurde. Die Abbildung zeigt den Grundriß. Es ist ein geschossiges Haus ohne Dachgärten und Balkone.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 5

    Wir fassen zunächst die größte rechteckige Raumgruppe heraus und überdachen sie mit einem Satteldach, dessen First-linie in Längsrichtung verläuft:Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 6

    Dann tun wir das gleiche mit kleineren Gruppen, bis alle wichtigen Räume überdacht sind.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 7

    Dann überdachen wir verbleibende kleine Räume, Nischen und dicke Wände mit nach außen geneigten Pultdächern. Diese Dächer sollten an der Basis der Hauptdächer ansetzen, um sie von auswärtsgerichtetem Schub zu entlasten; ihre Außenseiten sollten so niedrig wie möglich sein.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 8

    Schließlich idetifizieren wie die Aussenräume ( mit A, B, und C bezeichnet) und walmen die angrenzenden Giebel ab, um rundherum eine kontinuierliche Traufenkante zu erlangen.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 8a

    Nun behandeln wir ein etwas komplizierteres Beispiel: ein zweigeschoßiges Gebäude.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 8b

    Wir beginnen mit dem oberen Stockwerk, überdachen das ganze Elternschlafzimmer samt Bad mit einem Satteldach, die Firstlinie in Längsrichtung.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 8c

    Dann gehen wir zum unteren Geschoß weiter, decken den Kinderflügel mit einem Flachdach, um einen DACHGARTEN (118) für das Elternzimmer zu bilden, und den größeren Wohnraum mit einem Satteldach, wieder mit der Firstlinie in Längsrichtung.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 8d

    Dann ziehen wir das Dach des Elternschlafzimmers über den angrenzenden Dachbodenvorplätz hinunter.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 9

    Schließlich verlängern wir die Firstlinie des Wohnraumdaches, sodaß dieses sich mit der Dachseite über dem Vorplatz verschneidet. Damit ist die Dachausmittlung abgeschlossen.Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 10

 

Es empfiehlt sich, bei der Dachausmittlung das Konstruktionsprinzip der DACHKASKADE (116) einzuhalten. Wenn man fertig ist, sollten alle Dächer zusammen eine in sich abgestrebte Kaskade bilden, in der jeweils das untere Dach den Horizontalschub des oberen Daches aufnimmt. Die Gesamtfiguration der Dächer im Schnitt nimmt dann - in grober Annäherung die Form einer umgekehrten Kettenlinie an.

 

Daraus folgt:

Leg die Dächer so an, daß jedes einzelne Dach einer identifizierbaren sozialen Einheit im Gebäude oder Gebäudekomplex entspricht. Bau die größten Dächer - die mit den höchsten Firsten und den größten Spannweiten - über die größten, wichtigsten und die am meisten gemeinschaftlich genutzten Räume; laß die kleineren Dächer von diesen größten und höchsten ausgehen, und die kleinsten wieder von diesen, etwa als Halbtonnen und Pultdächer über Nischen und dicken Wänden.

 Eine Muster Sprache 209 ANORDNUNG DER DÄCHER 11

 

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Beim Bauen aller dieser Dächer und ihrer Verbindungen folg den Angaben für GEWÖLBTE DÄCHER (220). Wenn ein Flügel frei endet, belaß den Giebel in voller Höhe; wenn ein Flügel an einem Hof endet, walm den Giebel ab, damit die horizontale Dachkante den Hof wie ein Zimmer wirken läßt - BELEBTE INNENHÖFE (115).

Behandle die kleinsten Pultdächer über dicken Wänden und Nischen als Strebepfeiler, die einen Teil des Horizontalschubes von Deckengewölben und höherliegenden Dachgewölben aufnehmen können - VERBREITERN DER AUSSENWÄNDE (211) ...

 

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208.0

... in DIE KONSTRUKTION FOLGT DEN SOZIALEN RÄUMEN (205) und RATIONELLE KONSTRUKTION (206) haben wir den Ansatz einer Philosophie, eine Einstellung zum Bauen dargelegt. GUTE: BAUSTOFFE (207) sagt uns etwas über die Materialien, die wir verwenden sollten, um humanen und ökologischen Anforderungen zu entsprechen. Jetzt müssen wir, bevor wir mit der: praktischen Aufgabe des Konstruktionsschemas für ein Gebäude beginnen, ein weiteres philosophisches Muster in Betracht ziehen: Es definiert den Bauprozess, durch den die Anwendung eines richtigen konstruktiven Gesamtkonzeptes und der richtigen Baustoffe überhaupt möglich macht.

 

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Der Anwendung von Muster-Sprachen liegt die Philosophie zugrunde, daß Gebäude individuellen Bedürfnissen und Bauplätzen jeweils einzeln angepaßt sein sollten - und daß die Pläne von Gebäuden eher lose und veränderlich sein sollten, damit sie auf diese Feinheiten eingehen können.

 

Dies erfordert eine völlig neue Einstellung gegenüber den Bauvorgang. Diese Einstellung könnte man so beschreiben: Ein Gebäude sollte so errichtet werden, daß es zu Anfang lose und schwach ist, während der Plan noch Änderungen erfährt, und erst dann während des Bauvorganges schrittweise ausgesteift wird, sodaß jede zusätzliche Baumaßnahme die Konstruktion fester macht.

Um diese Philosophie richtig zu verstehen, kann man:sich den Bau wie die Herstellung eines Korbes vorstellen. Einige Ruten werden in die richtige Lage gebracht. Sie sind sehr lose. Weitere Ruten werden eingeflochten. Allmählich wird der Korb steifer und steifer. Die Festigkeit des fertigen Korbes wird erst durch das Zusammenwirken aller Teile erreicht, nicht bevor der Bau abgeschlossen ist. In diesem Sinn entsteht durch einen solchen Prozess ein Gebäude, in dem alle Teile konstruktiv wirken - siehe RATIONELLE KONSTRUKTION (206).

Warum ist das Prinzip des schrittweise erfolgenden Aussteifens so sinnvoll für den Bauprozeß?

Zunächst ermöglicht eine solche Konstruktion, daß der tätsächliche Baufortgang eine schöpferische Tätigkeit ist. Sie erlaubt, daß das Gebäude schrittweise errichtet wird. Die Teile können ihren Platz wechseln, bevor sie fest eingebaut werden. All die detaillierten Entwurfsentscheidungen, die man nie im voraus auf dem Papier ausarbeiten kann, können nun während des Bauvorganges getroffen werden. Man kann den Raum in drei Dimensionen als Ganzes sehen, Schritt für Schritt, während mehr und mehr Material hinzukommt.

Da jedes im Bauvorgang neu hinzukommende Material sich vollkommen dem bereits gegebenen Rahmen anpassen muß, bedeutet das, daß jedes weitere Material anpassungsfähiger, flexibler ist, besser geeignet, mit Veränderungen fertig zu werden, als das vorige. Während also das Gebäude im Ganzen vom Schwachen zum Festen geht, gehen in Wirklichkeit die hinzugefügten Baustoffe von den stärksten und steifsten schrittweise zu den weniger steifen, bis schließlich flüssige Materialien hinzukommen.

Das Wesen dieses Prozesses ist wirklich sehr entscheidend. Am besten verstehen wir es, wenn wir die Arbeit eines 50jährigen Tischlers mit der eines Anfängers vergleichen. Der erfahrene Tischler macht immer weiter. Er muß nicht immer wieder aufhören, denn jede Aktion, die er ausführt, ist so berechnet, daß eine spätere Aktion sie genau in dem Maße berichtigen kann, wie sie jetzt unvollkommen ist. Worum es geht, ist die Abfolge der Ereignisse. Der Tischler macht nie einen Schritt, den er später nicht ausbessern kann; deshalb kann er immer weiter arbeiten, stetig und ohne Bedenken.

Der Anfänger verbringt im Vergleich viel Zeit damit, sich auszudenken, was zu tun ist. Er weiß, daß eine Handlung, die er jetzt unternimmt, später unwiderrufliche Folgen haben kann; wenn er nicht aufpaßt, wird er vielleicht auf eine Verbindung stoßen, deretwegen man einen wichtigen Teil kürzen muß — in einer Phase, in der es dazu zu spät ist. Die Furcht vor solchen Fehlern zwingt ihn zu stundenlangem voraus überlegen; und sie zwingt ihn, so weit wie möglich nach exakten Zeichnungen zu arbeiten, die ihm die Vermeidung solcher Fehler garantieren.

Der Unterschied zwischen dem Anfänger und dem Meister ist einfach der, daß der Anfänger noch nicht gelernt hat, so zu arbeiten, daß er sich kleine Fehler leisten kann. Der Meister weiß, daß die Abfolge seiner Schritte ihm stets erlauben wird, seine Fehler etwas später aufzufangen. Es ist dieses einfache, aber grundlegende Wissen, das der Arbeit eines Tischlermeisters ihre wunderbare, sanfte, entspannte, fast unbekümmerte Einfachheit verleiht.

In einem Gebäude haben wir genau das gleiche Problem, nur in größerem Maßstab. Im wesentlichen hat modernes Bauen den Charakter der Arbeit eines Anfängers, nicht eines Meisters. Die Leute vorn Bau verstehen es nicht, entspannt zu sein, durch spätere genauere Arbeit mit früheren Fehlern fertig zu werden; sie kennen keine richtige Abfolge der Vorgänge; sie haben im allgemeinen kein Bausystem, kein Konstruktionsverfahren, das diese entspannte und lässige Weisheit entstehen läßt. Stattdessen arbeiten sie wie der Anfänger streng nach genau detaillierten Zeichnungen; das Gebäude ist weitgehend unflexibel, während es entsteht; jedes Abweichen von den genauen Zeichnungen kann zu schweren Problemen führen und sogar das Herausreißen ganzer Teile erforderlich machen.

Diese anfängerhafte und angsterfüllte Sorge um das Detail hat zwei sehr ernste Folgen. Erstens verbringen die Architecten - wie Anfänger - viel Zeit damit, die Dinge vor der Zeit auszuarbeiten, statt ruhig und fließend zu bauen. Natürlich kostet das Geld; und dadurch entstehen diese maschinenähnlichen, „perfekten" Gebäude. Die zweite, weit ernstere Folge: die Details kontrollieren das Ganze. Die Schönheit und Subtilität des Planes, in dem die einzelnen Muster frei den Entwurf beherrscht haben, werden eingeengt und vernichtet, weil man zuläßt, daß die Details von Verbindungen und Bauteilen den Grundriß beherrschen - aus Furcht, sie könnten später nicht lösbar sein. Als Folge davon bekommen Räume eine leicht falsche Form, Fenster rücken aus ihrer Position, Abstände zwi.chen Türen und Wänden werden gerade so weit verändert, daß sie nicht verwendbar sind. Mit einem Wort: der durchgehende Charakter moderner Architektur, nämlich die Beherrschung des größeren Raumes durch läppische Baudetails, setzt: sich durch.

Erforderlich ist das Gegenteil: ein Prozess, in dem Details sich:. in das Ganze fügen. Das ist das Geheimnis des Tischlermeisters; es ist ausführlich in The Timeless Way of Building als die Grundlage aller organischen Form und jedes richtigen Bauens beschrieben. Der Prozess des schrittweise erfolgenden Aussteifens, den wir hier beschreiben, ist baulich und in der Vorgangsweise die Verkörperung dieses wesentlichen Prinzips. Wir müssen uns nun fragen, wie es praktisch möglich ist, eine schrittweise ausgesteifte Konstruktion im Zusammenhäng mit dem Muster GUTE BAUSTOFFE (207) zu schaffen.

Wir gehen von materialspezifischen Tatsachen aus.

  1. Baustoffe in Platten sind leicht zu produzieren und ergeben die besten Verbindungen.

    In traditionellen Gesellschaften gibt es kaum Baustoffe in Platten. Die industrielle Produktion stellt Platten jedoch leichter her als andere Formen von Halbfabrikaten. Je mehr wir uns in die Richtung der Massenproduktion bewegen, desto vielfältiger werden Plattenmaterialien, die von sich aus fest, leicht und billig sind. Gipskarton, Sperrholz, Gewebe, Vinyl, Jute, Glasfaser, Spanplatten, Holzdielen, Wellblech, Maschendraht sind solche Beispiele.

    Und Platten ergeben die festesten Verbindungen. Verbindungen sind die schwachen Punkte in einer Konstruktion. Baustoffe in Platten sind leicht zu verbinden, weil in den Verbindungen Flächen aufeinander treffen. Was aus Platten gemacht ist, ist naturgemäß stärker als das, was aus Klötzen oder Stäben gemacht ist.

  2. Leichtbeton ist ein ausgezeichnetes Füllmaterial — er hat die Dichte des Holzes, ist fest, leicht, leicht zu schneiden, leicht zu reparieren, leicht zu nageln — und steht überall zur Verfügung. Das wird ausführlich in GUTE BAUSTOFFE (207) behandelt.
  3. Allerdings braucht jede Art von Beton eine Schalung; und Schalungskosten sind sehr hoch.

    Deshalb ist tatsächlich der Bau jeder komplizierten Form sehr teuer; und innerhalb konventioneller Bauverfahren schließt es die von uns beschriebene Art „organischer" Konstruktion mehr oder weniger aus. Außerdem ist bei normaler Betonherstellung die Schalung letzten Endes verloren, wird weggeworfen.

    Wir glauben, daß in einem vernünftigen Bausystem die Oberflächen mit dem Bauprozess und der Konstruktion selbst integriert sein sollte (wie sie es in fast allen traditionellen Bauten sind) und daß ein Bausystem, das die Oberflächen dem Bau „hinzufügen" muß, unökonomisch und unnatürlich ist.

  4. Wir schlagen daher vor, Leichtbeton in Formen aus leicht erhältlichen Plattenbaustoffen zu gießen, und daß diese Plattenbaustoffe dann an Ort und Stelle verbleiben und die Oberflächen bilden.

    Die Plattenbaustoffe können jede Kombination von Geweben, Jute, Holzbretter, Gipskartonplatten, Faserplatten, Sperrholz, Pappe, verputzer Maschendraht, Wellblech und — wo es möglich ist — Fliesen, Ziegel oder Stein sein: siehe GUTE BAUSTOFFE (207). Als Zuschlagstoff für den Leichtbeton empfehlen wir Perlit, Blähton oder Bims. Gestampfte Erde, luftgetrocknete Ziegel, nicht chlorhältige Schäume können statt des Betons verwendet werden, wenn die Belastungen es erlauben.208.1mit Text

    Die Zeichnung zeigt eine Form der Ausführung einer solchen schrittweise erfolgenden Aussteifung. Aber das Prinzip ist weitaus allgemeiner als dieser besondere Fall. In Wirklichkeit kommt es in der einen oder anderen Form in fast allen traditionellen Bauweisen vor. Eskimo-Iglu- und afrikanische Korbkonstruktionen sind beide schrittweise ausgesteifte Konstructionen, wo jeder weitere Schritt auf den bereits bestehenden Rahmen aufbaut, ihn ergänzt und aussteift. Die Steingebäude von Alberobello in Süditalien sind auch Beispiele dafür, ebenso der Elisabethanische Fachwerkbau.

 

Daraus folgt:

Mach dir klar, daß du ein Gebäude nicht aus Teilen eines Baukastens zusammensetzt, sondern daß du eine Konstruktion wie ein Gewebe errichtest: sie ist zu Beginn im großen und ganzen vollständig, aber noch wackelig; dann wird sie schrittweise ausgesteift, ist aber immer noch nicht ganz fest; erst am Schluß wird sie vollständig starr und fest.

Wir glauben, daß für unsere Zeit die natürlichste Version dieses Prinzips darin besteht, eine Schale aus Plattenbaustoffen zu errichten und sie dann mit druckfestem Füllmaterial zu verfestigen.

 Eine Muster Sprache 208 ERST LOSE DANN STARR 1

 

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Wähl für die äußere Schale möglichst natürliche Materialien: dünne Holzbretter für Pfeiler, Jute oder Sackleinwand für die Gewölbe, Gipsplatten, Planken, Ziegel oder Hohlziegel für Wände GUTE BAUSTOFFE (207).

Verwende Perlit-Leichtbeton von 650-1000 kg/m³ für die Druckfüllung — er hat die gleiche Dichte wie Holz und kann wie Holz geschnitten und genagelt werden, sowohl während des Baus und in späteren Jahren, wenn Reparaturen erforderlich sind — GUTE BAUSTOFFE (207).

Stell zuerst die Säulen auf, füll sie dann mit Leichtbeton; dann schal die Balken und füll sie; dann die Gewölbe — bedeck diese zunächst mit einer dünnen Betonschicht, die zu einer Schale erhärtet; dann füll diese Schale mit noch leichterem Material, um die Fußböden zu bilden; dann mach die Wände und Fensterrahmen und füll sie aus; und schließlich das Dach, wieder ein dünnes Gewölbe aus einer Betonschicht auf einem Gewebe, die eine Schale bildet — KASTENPFEILER (216), RANDBALKEN (217), WANDSCHALEN (218), GEWÖLBTE DECKEN (219), GEWÖLBTE DÄCHER (220) ...

 

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207.0

... die Konstruktionsprinzipien erlauben, uns ein Gebäude vorzustellen, in dem die Baustoffe auf die rationellste Weise verteilt sind und das deckungsgleich mit den im Grundriß vorgegebenen Räumen ist — DIE KONSTRUKTION FOLGT DEN SOZIALEN RÄUMEN (205), RATIONELLE KONSTRUKTION (206). Aber das konstruktive Konzept ist immer noch lediglich schematisch. Es kann erst eine feste und überzeugende Vorstellung werden, wenn wir wissen, aus welchen Materialien das Gebäude gemacht wird. Dieses Muster hilft uns, die Baustoffe festzulegen.

 

❖ ❖ 

 

In der Industriegesellschaft gibt es über die Natur der Baustoffe einen grundlegenden Konflikt.

 

Einerseits erfordert ein organisches Gebäude Baumaterialien, die aus hunderten kleiner Stücke bestehen, deren jedes von Hand als Einzelstück entsprechend seiner Lage im Bauwerk geformt wird. Andererseits tendieren die hohen Arbeitskosten und die Leichtigkeit der Massenproduktion zur Herstellung von Baustoffen, die großteilig, identisch, nicht zuschneidbar oder modifizierbar und nicht den Eigenheiten eines Planes anpassbar sind. Diese „modernen" Materialien zerstören leicht die organische Qualität natürlicher Gebäude und verhindern sie sogar. Außerdem sind moderne Baustoffe oft wenig dauerhaft und schwer instsndzuhalten, sodaß Gebäude schneller verfallen als in einer vorindustriellen Gesellschaft, als man Gebäude über hunderte von Jahren mit ständiger Sorgfalt in-standhalten und ausbessern konnte.

Das zentrale Problem beim Baumaterial ist also, eine Kombination von Baustoffen zu finden, die in den Stückmaßen klein sind, leicht zuzuschneiden, leicht auf der Baustelle ohne Einsatz großer und teurer Maschinen zu bearbeiten, leicht zu verändern und anzupassen, schwer genug, um fest zu sein, dauerhaft oder leicht instand zuhalten und leicht zu verbauen, ohne Erfordernis von Spezialarbeit, ohne hohe Arbeitskosten und überall erhältlich und billig.

Darüber hinaus muß diese Auswahl guter Baustoffe ökologisch vernünftig sein: biologisch abbaubar, niedrig im Energieverbrauch, nicht auf erschöpfbaren Ressourcen beruhend.

Wenn wir alle diese Anforderungen zusammennehmen, ergibt sich eine eher überraschende Auswahl von „guten Baustoffen" — sehr verschieden von den Baumaterialien, die heute in Gebrauch sind. Die folgende Erörterung ist ein erster Versuch, diese Kategorie von Baustoffen zu definieren. Sie ist sicherlich unvollständig; aber vielleicht kann sie weiterhelfen, das Problem der Baustoffe sorgfältiger zu durchdenken.

Wir beginnen mit den „Hauptbaustoffen" — den Baustoffen, die in einem gegebenen Gebäude in den größten Mengen auftreten. Sie dürften etwa 80% des Gesamtvolumens an Material in einem Gebäude ausmachen. Hauptbaustoffe waren traditioneller weise Erde, Beton, Holz, Ziegel, Stein, Schnee...  Heute sind die Hauptbaustoffe im wesentlichen Holz, Beton und, in sehr großen Gebäuden, Stahl.

In einer genauen Analyse dieser Baustoffe nach unseren Kriterien entsprechen Stein und Ziegel den meisten den Anforderungen, kommen aber, wo die Arbeitskosten hoch sind, oft nicht in Frage, weil sie sehr arbeitsintensiv sind.

Holz ist in vieler Hinsicht hervorragend. Wo es zur Verfügung steht, verwenden es die Menschen in großen Mengen, und wo es nicht zur Verfügung steht, versuchen die Menschen, es zu bekommen. Leider sind die Wälder entsetzlich bewirtschaftet worden; viele sind verwüstet; die Preise für Bauholz sind explodiert. Aus der heutigen Zeitung: „Seit dem Ende der staatlichen Preiskontrolle sind die Holzpreise um etwa 15% monatlich hochgeschnellt und liegen nun um rund 55% über den Vorjahrespreisen." San Francisco Chronicle, 11. Februar 1973. Wir müssen deshalb Holz als kostbares Material betrachten, das nicht in großen Mengen oder als Konstruktionsmaterial verwendet werden darf.

Stahl als Hauptmaterial steht wohl außer Frage. Wir brauchen ihn nicht für hohe Gebäude, da diese gesellschaftlich sinnlos sind — HÖCHSTENS VIER GESCHOSSE (21) —, und für kleinere Gebäude ist es teuer, nicht veränderbar, seine Produktion verbraucht viel Energie

Erde ist ein interessanter Hauptbaustoff. Aber sie ist schwer zu verfestigen, die Wände werden unglaublich schwer, weil sie so dick sein müssen. Wo das angebracht und Erde verfügbar ist, ist sie jedoch sicher einer der „guten Baustoffe".

Normaler Beton ist zu dicht. Er ist schwer und kaum zu bearbeiten. Nach der Abbindung kann man nicht hineinschneiden oder einen Nagel einschlagen. Und seine Oberfläche ist hässlich, kalt, fühlt sich hart an, wenn sie nicht mit teuren, konstruktionsfremden Oberflächen verkleidet wird.

Und doch ist Beton in einiger Hinsicht ein faszinierender Baustoff. Er ist flüssig, von hoher Festigkeit und relativ billig. Er ist fast überall auf der Welt verfügbar. Ein Professor für Ingenieurbauwissenschaften an der University of California, P. Kumar Mehta, hat vor kurzem eine Methode gefunden, Portlandzement aus Reisschalenabfall zu machen.

Gibt es irgendeine Möglichkeit, all diese guten Eigenschaften des Betons zu kombinieren und gleichzeitig einen Baustoff zu erhalten, der leicht ist, gut zu bearbeiten, mit einer angenehmen Oberfläche? Es gibt eine. Es steht eine ganze Reihe von sehr leichten Betonen zur Verfügung, deren Dichte und Druckfestigkeit denen des Holzes sehr ähnlich ist. Sie sind leicht zu bearbeiten, können mit gewöhnlichen Nägeln genagelt, mit Holzwerkzeugen geschnitten und gebohrt und leicht repariert werden.

Wir glauben, daß Leichtbeton ein Grundbaustoff der Zukunft ist.

Um das so klar wie möglich zu zeigen, erörtern wir jetzt die Variationsbreite von Leichtbetonen. Unsere Versuche führen uns zu der Annahme, daß die besten Leichtbetone, nämlich die fürs Bauen geeignetsten, jene mit Dichten von 650 — 1000 kg/m³ sind, die eine Druckfestigkeit von 400 700 N/cm² aufweisen.

Seltsamerweise liegen diese technischen Daten in jenem Bereich, der von den gegenwärtig verfügbaren Betonarten am wenigsten entwickelt ist. Wie das folgende Diagramm zeigt, sind die sogenannten „Konstruktions"-Betone gewöhnlich dichter (mindestens 1500 kg/m³) und viel fester. Die gebräuchlichsten „Leicht"-Betone verwenden Vermikulit als Zuschlagstoff, werden in Fußbodenkonstruktionen und Dämmung verwendet, sind sehr leicht, gewöhnlich aber für konstruktive Zwecke nicht fest genug — ihre Druckfestigkeit beträgt meistens ungefähr 200 N/cm². Mit einer Reihe von Mischungen leichter Zuschlagstoffe, etwa Vermikulit, Perlit, Bims und Blahschiefer in verschiedenen Mengenverhältnissen kann man jedoch überall in der Welt ohne Schwierigkeiten Betone mit 650 —1000 kg /m³ und 400 N/cm² herstellen. Wir haben mit einer Mischung von 1:2:3 Teilen Zement-Kylit-Vermikulit viel Erfolg gehabt.

 Eine Muster Sprache 207 GUTE BAUSTOFFE

Neben den Hauptbaustoffen gibt es in geringeren Mengen verwendete Materialien für Unterkonstruktionen, Verkleidungen und Beschichtungen. Das sind „Sekundär"-Baustoffe.

Wenn Gebäude aus leicht zu handhabenden Sekundärbaustoffen ausgeführt sind, können sie mit denselben Baustoffen repariert werden: die Reparatur und das ursprüngliche Gebäude bilden ein kontinuierliches Ganzes. Die Gebäude werden auch eher repariert, wenn das leicht zu machen ist und der Benutzer es nach und nach selber machen kann, ohne auf Facharbeit und Spezialausrüstung angewiesen zu sein. Mit vorgefertigten Baustoffen ist das unmöglich; diese Baustoffe sind ihrem Wesen nach unreparierbar. Wenn vorgefertigte Ausbaumaterialien beschädigt sind, müssen sie durch völlig neue Bauteile ersetzt werden. Nehmen wir z. B. eine Gartenterrasse. Man kann sie aus einer zusammenhängenden Betonplatte machen. Wenn der Boden unter der Platte sich leicht verschiebt, reißt und knickt sie. Das kann der Benutzer kaum reparieren. Man muß die gänze Platte herausbrechen (was ziemlich schwere Geräte erfordert) und neu machen — und zwar durch Professionisten. Andererseits hätte man die Terrasse von Anfang an aus vielen kleinen Ziegeln, Fliesen oder Steinen bauen können. Wenn dann der Boden sich verschiebt, kann der Benutzer an der Bruchstelle die Fliesen herausnehmen, etwas Erde dazugeben und die Fliesen wieder einsetzen — alles ohne Einsatz von teuren Maschinen oder Facharbeit. Und wenn Fliesen oder Ziegel beschädigt sind, können sie leicht ausgetauscht werden.

Welche Sekundärbaustoffe sind gut? Holz, das wir als Hauptbaustoff vermeiden wollen, ist ein ausgezeichneter Sekundärbaustoff für Türen, Verkleidungen, Fenster, Möbel. Sperrholz, Spanplatten und Gipskartonplatten kann man schneiden, nageln, zurichten; und sie sind relativ billig. Bambus, Stroh, Putz, Pappe, Wellblech, Maschendraht, Segeltuch, Stoff, Vinyl, Strick, Glasfaser, nicht chlorierte Kunststoffe sind alles Beispiele für Sekundärbaustoffe, die unseren Kriterien ganz gut entsprechen. Einige sind ökologisch bedenklich - nämlich Glasfaser und Wellblech aber diese Materialien sind dünne Bahnen oder Platten und dienen in ihrer geringen Menge nur dazu, den Hauptbaustoffen Form, Oberfläche und Abschluß zu geben.

Schließlich gibt es Materialien, die nach unseren Kriterien völlig ausgeschlossen werden - sowohl als Haupt- wie als Sekundärbaustoffe. Sie sind teuer, individuellen Plänen schwer anzupassen, ihre Produktion erfordert hohen Energieaufwand, ihre Reserven sind begrenzt.... z. B.: Stahltafeln und Walzstahlprofile; Aluminium; Spannbeton; chlorierte Schaumstoffe; Bauholz für Konstruktionen; Zementputz; Glas in großen Flächen....

Und die Optimisten, die glauben, daß wir Stahlbewehrungen in alle Zukunft weiter verwenden können, sollten sich die Tatsache vor Augen halten, daß sogar das überall auf der Erde reichlich vorhandene Eisen ein begrenzter Rohstoff ist. Wenn der Verbrauch mit der gegenwärtigen Wachstumsrate weiter steigt (was leicht möglich ist, da weite Teile der Welt das amerikanische und westliche Verbrauchsniveau noch nicht erreicht haben), werden die Eisenreserven 2050 ausgeschöpft sein.

 Eine Muster Sprache 207 GUTE BAUSTOFFE 1

 

Daraus folgt:

Verwende nur biologisch abbaubare, nicht energieintensive Baustoffe, die leicht an der Baustelle zu schneiden und anzupassen sind. Als Hauptbaustoffe empfehlen wir Leichtbeton mit 650 — 1000 kg/m³ und auf Erde beruhende Baustoffe wie gestampfte Erde, Ziegel und keramische Fliesen. Als Sekundärbaustoffe verwende Holzdielen, Gips, Sperrholz, Gewebe, Maschendraht, Pappe, Karton, Spanplatten, Wellblech, Kalkputz, Bambus, Strick und Fliesen.

 Eine Muster Sprache 207 GUTE BAUSTOFFE 2

 

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In ERST LOSE, DANN STARR (208) werden wir herausarbeiten, wie diese Baustoffe im Einklang mit DIE KONSTRUKTION FOLGT DEN SOZIALEN RÄUMEN (205) und RATIONELLE KONSTRUKTION (206) anzuwenden sind. Versuch die Materialien so zu verwenden, daß man ihre besondere Textur sieht — SCHUPPIGE AUSSENWÄNDE (234), WEICHE INNENWÄNDE (235) ...

 

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206.0

... dieses Muster ergänzt das vorige - DIE KONSTRUKTION FOLGT DEN SOZIALEN RÄUMEN (205). Während jenes die Beziehung zwischen den sozialen Räumen und der Konstruktion bestimmt, befaßt sich dieses mit der Konstruktion als Gegenstand der Statik. Wie man sehen wird, ist es mit DIE KONSTRUKTION FOLGT DEN SOZIALEN RÄUMEN (205) vereinbar und trägt zu dessen Enstehung bei.

 

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Manche Gebäude sind aus Stützen und Balken konstruiert; andere haben tragende Wände und Deckentplatten; andere sind Gewölbekonstruktionen, Kuppeln oder Zelte. Aber welche davon, oder welche Zusammensetzung aus diesen, ist wirklich die rationellste? Wie kann man Material am besten in einem Gebäude verteilen, um den Raum mit der geringstmöglichen Menge an Material fest und gut zu umschließen?

 

Techniker pflegen zu sagen, daß es auf diese Frage keine Antwort gibt. Nach gegenwärtiger Ingenieurbaupraxis muß man zunächst eine willkürliche Wahl aus den möglichen Grundsystemen treffen - und kann. erst dann Theorie und Berechnung anwenden, um die Größe der Teile innerhalb des gewählten Systems zu bemessen. Aber die grundlegende Wahl selbst kann - zumindest nach der herrschenden Lehre - nicht durch die Theorie getroffen werden.

Jedem forschenden Geist muß das ganz unwahrscheinlich vorkommen. Daß so eine grundlegende Wahl wie die zwischen Stützen- und Balkensystemen, tragenden Wandsystemen und Gewölbesystemen völlig im Bereich der Laune liegen sollte und daß die mögliche Unzahl zusammengesetzter Systeme, die zwischen diesen Archetypen liegen, nicht einmal in Betracht gezogen werden könne -, hängt wohl mehr mit dem Zustand verfügbarer Theorie zusammen als mit irgendeiner grundlegenden Einsicht.

Wie wir gleich zu zeigen versuchen werden, ist tatsächlich die archetypische, beste Lösung des Problems der rationellen Konstruktion eines Bauwerks eine, die zwischen den drei bekanntesten Archetypen liegt. Es ist ein System tragender Wände, in geringen Abständen durch verdickte Aussteifungen wie Pfeiler unterstützt, mit einem gewölbten Deckensystem.

Wir werden die Merkmale der rationellsten Konstruktion in drei Schritten herleiten. Zunächst werden wir den dreidimensionalen Charakter eines typischen Systems von Räumen und Volumina in einem Gebäude bestimmen. Sodann werden wir eine rationelle Konstruktion definieren als die kleinste, billigste Menge haltbaren Mäteriäls, lediglich zwischen den Räumen angeordnet, die ihre eigenen und die in den Räumen entstehenden Lasten tragen kann. Zuletzt werden wir die Einzelheiten einer rationellen Konstruktion entwickeln. Für eine ähnliche Erörterung siehe Christopher Alexander, „An attempt to derive the nature of a human building system from first principles", in Edward Allen, The Responsive House, M.I.T. Press, 1974.

 

I. Die dreidimensionalen Merkmale eines typischen Gebäudes,Die dreidimensionalen Merkmale eines typischen Gebäudes,das ausschließlich auf den sozialen Räumen und den Raumeigenschaften beruht.

Um diese von Grund auf zu entwickeln, betrachten wir zuerst die typische Form von Räumen - siehe FORM DES INNENRAUMS (191) - und leiten dann daraus die rationellste Konstruktion für ein Gebäude ab, das aus solchen Räumen zusammengesetzt ist:

  1. Jeder Raum wird im Grundriß durch Segmente gebildet, die - obwohl sie nicht vollkommen gerade sein müssen - im wesentlichen gerade Linien darstellen.
  2. Die Deckenhöhen von Räumen variieren je nach deren sozialer Funktion. Grob gesprochen, variieren die Deckenhöhen mit den Bodenflächen - große Räume haben höhere Decken, kleine niedrigere - VERSCHIEDENE RAUMHÖHEN (190).
  3. Die Raumkanten sind im wesentlichen vertikal bis zur Kopfhöhe - d.h. bis etwa 1,80 m. Oberhalb der Kopfhöhe kann die Raumbegrenzung weiter nach innen verlaufen. Die oberen Kanten zwischen Wand und Decke eines normalen Raumes dienen keinem Zweck. Es ist also nicht sinnvoll, sie als wesentlichen Teil des Raumes zu betrachten.
  4. Jeder Raum hat einen horizontalen Boden.
  5. Ein Gebäude ist also eine Packung polygonaler Räume, in der jedes Polygon im Querschnitt die Form eines Bienenkorbs hat — und eine Höhe, die entsprechend seiner Größe variiert.

Dem Prinzip DIE KONSTRUKTION FOLGT DEN SOZIALEN RÄUMEN (205) folgend, können wir voraussetzen, daß diese dreidimensionale Anordnung von Räumen intakt bleiben muß und nicht durch Konstruktionselemente unterbrochen werden darf. Demnach darf in einer rationellen Konstruktion das Material nur die Zwischenräume einnehmen.

 Eine Muster Sprache 206 RATIONELLE KONSTRUKTION

Die primitivste dieser möglichen Konstruktionen können wir uns durch die Vorstellung eines einfachen Vorganges veranschaulichen. Nehmen wir einen Wachsklumpen für jeden im Gebäude vorkommenden Raum und entwerfen wir eine dreidimensionale Anordnung dieser Wachsklumpen, indem wir zwischen aneinanderliegenden Klumpen Abstände lassen. Dann nehmen wir eine verallgemeinerte „Konstruktionsflüssigkeit" und gießen sie über diese Anordnung von Klumpen, sodaß das Ganze vollständig bedeckt ist und alle Abstände ausfüllt. Wenn die Flüssigkeit erhärtet ist, lösen wir die Wachsklumpen, die die Räume darstellen, auf. Was übrig bleibt ist die Konstruktion des Gebäudes in ihrer allgemeinsten Form.

 

II. Die rationellste Konstruktion für ein gegebenes System von Räumen.

Natürlich ist die gedachte Konstruktion aus Konstruktionsflüssigkeit unrealistisch. Übrigens ist sie eher unrationell: sie würde, wenn sie wirklich ausgeführt würde, viel Material verbrauchen. Wir müssen nach einer dieser Vorstellung ähnlichen Konstruktion suchen, die hingegen mit der geringsten Menge von Material auskommt. Wie wir sehen werden, muß diese rationellste Konstruktion eine druckbeanspruchte Konstruktion sein, in der Biegung und Zug auf ein Minimum reduziert sind, und eine steife Konstruktion, in der alle Teile fest verbunden sind, sodaß jeder Teil zumindest einen Teil der Spannungen übernimmt, die durch irgendeinen Lastfall entstehen.

  1. Eine druckbeanspruchte Konstruktion. In einer rationellen Konstruktion wollen wir, daß jedes Gramm Material voll beansprucht wird. Genauer formuliert, wollen wir, daß die Spannungen im Material so verteilt sind, daß in jedem Kubikzentimeter dieselben Spannungen auftreten. Das ist bei einem einfachen Holzbalken z. B. nicht der Fall. Die größten Spannungen treten am oberen und unteren Rand des Balkens auf; die mittlere Zone des Balkens hat nur geringe Spannungen, weil sich dort im Verhältnis zur Spannungsverteilung zuviel Material befindet.

    Ganz allgemein kann man sagen, daß biegebeanspruchte Teile immer ungleiche Spannungsverteilungen aufweisen und daß man deshalb die Spannungen nur dann gleichmäßig im Material verteilen kann, wenn die Konstruktion völlig frei von Biegebeanspruchungen ist. Kurz gesagt also, eine perfekt rationelle Konstruktion muß biegungsfrei sein.

    Es gibt zwei mögliche Konstruktionssysteme, die Biegung überhaupt vermeiden: reine Zugkonstruktionen und reine Druckkonstruktionen. Obwohl zugbeanspruchte Konstruktionen theoretisch interessant und in manchen Fällen für spezielle Zwecke geeignet sind, werden sie durch die Erwägungen, die in GUTE BAUSTOFFE (207) beschrieben sind, überwiegend ausgeschlossen, und zwar, weil auf Zug beanspruchbare Baustoffe schwer erhältlich und teuer sind, während fast alle Materiälien Druck aufnehmen können. Man denke insbesondere daran, daß sowohl Holz als auch Stahl, die beiden wichtigsten Baustoffe für Zugbeanspruchung, beide knapp sind und aus ökologischen Gründen nicht mehr in großen Mengen verwendet werden können — siehe auch dazu GUTE BAUSTOFFE (207).

  2. Eine steife Konstruktion. In einer rationellen Konstruktion gilt nicht nur, daß die einzelnen Teile unter der Last gleiche Spannungsverteilungen haben. Es gilt auch, daß die Konstruktion als ein Ganzes wirkt.

    Nehmen wir z. B. einen Korb: Die einzelnen Ruten des Korbes sind schwach; für sich kann keine viel Last aufnehmen. Der Korb ist aber so geschickt gemacht, daß alle Ruten selbst bei kleinster Last zusammenwirken. Wenn man an einem Teil des Korbes mit dem Finger drückt, wirken alle Ruten — auch die weiter entfernten — zusammen, um der Last standzuhalten. Und natürlich muß, da die Konstruktion als Ganzes die Last aufnimmt, kein Teil für sich sehr stark sein.

    Dieses Prinzip ist in einer Konstruktion wie einem Gebäude, das einer breiten Skala verschiedener Lastbedingungen ausgesetzt ist, besonders wichtig. Einmal weht der Wind sehr stark aus einer Richtung; dann wieder wird das Gebäude von einem Erdbeben gerüttelt; im Lauf der Jahre gibt es durch ungleichmäßige Setzung eine Umverteilung der ruhenden Lasten, weil manche Fundamente tiefer sinken als andere; und natürlich bewegen sich Menschen und Möbel im Gebäude ständig während der gesamten Lebensdauer. Wenn jeder Teil für sich stark genug sein sollte, um seine mögliche Höchstbelastung aufnehmen zu können, müßte er riesige Ausmaße haben.

    Aber wenn das Gebäude steif ist wie ein Korb, sodaß jeder Teil beim Tragen der kleinsten Last mitwirkt, dann stellt natürlich die Unvorhersehbarkeit der Lasten kein Problem dar. Die Teile können schwach sein, weil die Steifheit des Gebäudes auch die größten Lasten auf die Teile als Ganzes verteilt und das Gebäude ihnen als Ganzes standhält.

    Die Steifheit eines Gebäudes hängt von seinen Verbindungen ab: wirkliche Steifheit des Materials und der Form. Es ist sehr schwer, fast unmöglich, zwischen verschiedenen Baustoffen steife Verbindungen herzustellen, durch die Kräfte ebenso wirksam übertragen werden wie in gleichem Material; deshalb ist es wichtig, daß das Gebäude aus einem einzigen Baustoff gemacht ist, der von Teil zu Teil durchgehend verbunden ist. Die Form der Verbindungen zwischen den Elementen ist ebenso wichtig. Rechte Winkel tendieren zur Unsteifigkeit: Kräfte können im Gebäude nur verteilt werden, wenn es diagonale Aussteifungen gibt, wo Wände und Decken, Wände und Wände, Stützen und Balken zusammenkommen.

 

III. Die Einzelheiten einer rationellen Konstruktion.

Wenn wir also annehmen, daß ein rationelles Gebäude einerseits eine druckbeanspruchte und andererseits eine steife Konstruktion haben muß, können wir die wichtigsten morphologischen Eigenschaften seiner Struktur in direkter Schlußfolgerung ableiten.

  1. Die Decken über allen Räumen müssen gewölbt sein. Dies kann man direkt folgern. Die Kuppel- oder Gewölbeform ist die einzige, die mit reinem Druck arbeitet. Decken und Dächer können nur steif mit den Wänden verbunden sein, wenn sie sich an den Rändern nach unten krümmen, und die Gestalt sozialer Räume legt es direkt nahe — da der dreieckige Raum zwischen Wand und Decke keinen sinnvollen Zweck erfüllt, ist er ein gegebener Ort für Konstruktionsmaterial.Eine Muster Sprache 206 RATIONELLE KONSTRUKTION 1
  2. Alle Wände müssen tragend sein. Jede nichttragende Scheidewand widerspricht offensichtlich dem Prinzip der Kontinuität, das besagt, daß jedes Teilchen des Gebäudes an der Lastabtragung mitwirkt. Außerdem brauchen Stützen mit nichttragenden Wänden dazwischen Sicherheit gegen Ausknicken. Die Wand liefert diese von selbst; die Steifigkeit von Boden, Wänden und Decke kann nur durch die Wirkung einer alles verbindenden Wand entstehen.Eine Muster Sprache 206 RATIONELLE KONSTRUKTION 2
  3. Wände müssen in Abständen entlang ihrer Länge durch Pfeilervorlagen versteift werden. Eine Wand aus einer gegebenen Menge von Baustoff ist dann am effizientesten, wenn das Material ungleichmäßig verteilt wird und vertikale Rippen bildet. Eine solche Wand hat den wirksamsten Widerstand gegen Knicken — tatsächlich ist bei den meisten Wandstärken eine solche Aussteifung erforderlich, um die zulässige Druckspannung ausnützen zu können - siehe VERTEILUNG DER PFEILER (213). Sie hilft auch bei der Aufnahme horizontaler Kräfte, weil die Versteifungen gegen sie wie Balken wirken.Eine Muster Sprache 206 RATIONELLE KONSTRUKTION 3
  4. Verbindungen zwischen Wänden und Decken und zwischen Wänden und Wänden müssen durch zusätzliches Material in Form einer Hohlkehle entlang der Kante verstärkt werden. Verbindungen sind Schwachpunkte der Steifigkeit, und rechtwinkelige Verbindungen sind am schwächsten. Wir wissen aber aus DIE FORM DES INNENRAUMS (191), daß sich annähernd rechte Winkel nicht vermeiden lassen, wo Wände auf Wände treffen; und natürlich muß es annähernd rechte Winkel geben, wo Wände und Decken zusammentreffen. Um die schädliche Wirkung des rechten Winkels zu verringern, muß man den Winkel mit Material „füllen". Dieses Prinzip wird unter SICHTBARE AUSSTEIFUNG (227) besprochen.Eine Muster Sprache 206 RATIONELLE KONSTRUKTION 4
  5. Öffnungen in Wänden müssen verstärkte Rahmen und Abrundungen in den oberen Ecken haben. Dies läßt sich direkt aus dem Prinzip der kontinuierlichen Steifigkeit ableiten und wird in GERAHMTE ÖFFNUNGEN (225) ausführlich besprochen.Eine Muster Sprache 206 RATIONELLE KONSTRUKTION 5

 

Daraus folgt:

Betrachte das Gebäude als ein aus einer kontinuierlichen Masse von druckbeanspruchtem Baustoff bestehendes Gebilde. Bezüglich seiner Geometrie betrachte es als ein dreidimensionales System von gewölbten Einzelräumen, die meisten davon annähernd rechteckig; mit dünnen tragenden Wänden, die in ihrer Länge in Abständen durch Pfeiler versteift sind, verstärkt in den Verbindungen zwischen Wänden und Wänden und zwischen Wänden und Gewölben und verstärkt rund um die Öffnungen.

 Eine Muster Sprache 206 RATIONELLE KONSTRUKTION 6

 

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Die Anlage der inneren Gewölbe wird behandelt in ANLAGE DER GESCHOSSDECKEN (210) und GEWÖLBTE DECKEN (219); die Anlage der äußeren Gewölbe, die das Dach bilden, wird behandelt in ANORDNUNG DER DÄCHER (209) und GEWÖLBTE DÄCHER (220). Die Anlage der Versteifungen in den Wänden wird behandelt in VERTEILUNG DER PFEILER (213); die Anlage der Verstärkungen an den Schnittpunkten von Wänden wird behandelt in PFEILER IN DEN ECKEN (212); die Verstärkung an der Verbindung zwischen Wänden und Gewölben wird behandelt in RANDBALKEN (217); der Bau der Pfeiler und der Wände wird behandelt in KASTENPFEILER (216) und WANDSCHALEN (218); die Verstärkung von Tür- und Fensterrahmen wird behandelt in GERAHMTE ÖFFNUNGEN (225); und die nicht rechtwinkelige Verbindung zwischen Stützen und Balken in SICHTBARE AUSSTEIFUNG (227)...

 

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