211 VERBREITERN DER AUSSENWÄNDE *
... durch die Dach- und Deckengewölbe entsteht nach außen gerichteter Horizontalschub, der abgestrebt werden muß — DACHKASKADE (116). In einem sinnvoll entworfenen Gebäude kommt es auch vor, daß jedes Geschoß an verschiedenen Stellen von kleinen Alkoven, Fenstersitzen, Nischen und Arbeitsflächen umgeben ist, die „dicke Wände" entlang der Außenkante von Räumen bilden — PLATZ AM FENSTER (180), DICKE WÄNDE (197), SONNIGE ARBEITSFLÄCHE (199), EINGEBAUTE SITZBANK (202), HÖHLEN FÜR KINDER (203), GEHEIMFACH (204). Die Schönheit eines natürlichen Gebäudes besteht darin, daß diese dicken Wände, da ihre Decken immer niedriger sind als die der angrenzenden Räume, als Strebepfeiler dienen können.
Wenn die ANORDNUNG DER DÄCHER (209) und die ANLAGE DER GESCHOSSDECKEN (210) klar sind, können diese dicken Wände so verteilt werden, daß sie wirksame Strebepfeiler gegen den von den Gewölben entwickelten Horizontalschub bilden.
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In DICKE WÄNDE (197) haben wir gezeigt, wie wichtig es ist, daß die Wände eines Gebäudes „Tiefe" und „Körper" haben, sodaß sie im Lauf der Zeit Charakter annehmen können. Aber wenn man wirklich ein Gebäude entwirft und baut, stellt sich das als ziemlich schwierig heraus.
Gewöhnlich sind die Wände nicht im buchstäblichen Sinn dick, außer in bestimmten Sonderfällen, wenn sich z.B. Lehm für die Wände anbietet. Zumeist muß die Dicke der Wand aus Schäum, Putz, Pfeilern, Streben oder Membranen gebildet werden. In solchen Fällen spielen vor allem Pfeiler eine wichtige Rolle, weil sie die Leute am ehesten dazu bringen, aus den Wänden etwas zu machen. Wenn z. B. das Traggerüst einer Wand aus vor der Wand stehenden Stützen besteht, dann liegen Modifikationen der Wand nahe — es liegt in der Natur der Sache, Bretter an die Stützen zu nageln und so Sitzbänke und Regale zu bilden und überhaupt Eingriffe zu machen. Eine glatte, flache, leere Wand regt dazu nicht an. Wenn man auch theoretisch immer etwas Hervorstehendes an die Wand setzen kann, macht die glatte Fläche das sehr unwahrscheinlich. Nehmen wir also an, daß eine dicke Wand dann entsteht, wenn durch Stützen oder Säulen ein Volumen definiert wird.
Wie kann man die Kosten einer solchen Wand durch einen konstruktiven Vorteil rechtfertigen? Die Tatsache, daß das Gebäude als druckbeanspruchte Konstruktion konzipiert ist, deren Decken und Dächer gewölbt sind - RATIONELLE KONSTRUKTION (206) -, bedeutet, daß an der Außenseite des Gebäudes, wo die Gewölbe einander nicht mehr ausbalancieren, Horizontalschübe entstehen.
Bis zu einem gewissen Grad kann dieser Horizontalschub vermieden werden, wenn die Gesamtform des Gebäudes eine umgekehrte Kettenlinie bildet - siehe DACHKASKADE (116). Bildete es eine perfekte Kettenlinie, gäbe es überhaupt keinen Horizontalschub. Aber selbstverständlich sind die meisten Gebäude schmäler und steiler als die ideale konstruktive Kettenlinie, sodaß Horizontalschübe auftreten. Obwohl diese Schübe durch Zugbewehrungen in den Randbalken aufgenommen werden könnten - siehe RANDBALKEN (217) -, ist es am einfachsten, natürlichsten und dauerhaftesten, das Gebäude selbst zur Abstrebung der Horizontalschübe zu verwenden.
Diese Möglichkeit ergibt sich ganz natürlich, wenn es „dicke Wände" gibt - Nischen, Fenstersitze oder sonstige kleine Räume an der Außenkante von Räumen, die niedrigere Decken als der Raum selbst haben und mit ihrer Überdeckung daher die Form der inneren Deckengewölbe fortsetzen können. Dazu müssen sich die dicken Wände außerhalb der Konstruktion des Häuptraumes befinden, sodaß ihre Überdeckungen und Wände mit dem Hauptgewölbe annähernd eine Kettenlinie bilden.
Man wird natürlich nur selten Nischen oder dicke Wände im Schnitt annähernd in Form einer Kettenlinie anordnen können, man wird sie kaum je so tief und niedrig brauchen. Aber selbst wenn die dicken Wände und Nischen gegenüber der Kettenlinie zurückbleiben, nehmen sie Schub auf. Und ihr Strebepfeiler-Effekt kann noch verbessert werden, indem sie schwere Dächer erhalten. Das zusätzliche Gewicht lenkt die Kräfte aus dem Hauptgewölbe zum Boden hin um.
Die vorhergehende Zeichnung zeigt, wie dieses Muster funk-Die vorhergehende Zeichnung zeigt, wie dieses Muster funktioniert und wie es sich auf ein Gebäude auswirkt.
Daraus folgt:
Markiere alle Stellen im Grundriß, wo Sitzbänkeund Wandschränke sein sollen. Diese Stellen sind im einzelnen in NISCHEN (179), PLATZ AM FENSTER (180), DICKE WÄNDE (197), SONNIGE ARBEITSFLÄCHE (199), ORT IN HÜFTHÖHE (201), EINGEBAUTE SITZBANK (202) usw. behandelt. Leg im Grundriß entsprechend diesen Positionen einen breiten Streifen an. Mach ihn 60 90 cm tief - wohl gemerkt, außerhalb der eigentlichen Raumzone; die Sitzbänke, Nischen, Regale sollen sich nicht in den Räumen selbst befinden, sondern als außen angefügt empfunden werden. Die Pfeiler leg dann so an, daß sie diese dicken Wandkörper einrahmen und definieren, wie wenn sie eigene Räume oder Nischen wären.
Bei weniger als 60 cm tiefen Regalen und Arbeitsflächen muß man nicht so weit gehen. Die Verbreiterung kann dann einfach durch tiefere Pfeiler und dazwischen angeordnete Borde erreicht werden.
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Damit eine Nische oder dicke Wand als Strebepfeiler wirkt,bau ihr Dach so genau wie möglich als Fortsetzung der Kurve des innen anschließenden Deckengewölbes. Beschwere das Dach des „Strebepfeilers" mit zusätzlichem Material, um die Richtung der Kräfte umzulenken — GEWÖLBTE DÄCHER (220). Bedenke, daß diese dicken Wände außerhalb der eigentlichen Raumzone sein müssen, niedriger als das Hauptgewölbe des Raumes — GEWÖLBTE DECKEN (219) —, sodaß sie die Horizontalkräfte des Hauptdeckengewölbes aufnehmen. Beim Austeilen der Stützen und Nebenstützen leg eine Stütze an die Ecke jeder dicken Wand, sodaß der Wandraum wie andere soziale Räume ein erkennbarer Teil der Konstruktion wird — PFEILER IN DEN ECKEN (212) ...
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