26 LEBENSZYKLUS *

 

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... eine echte Gemeinde vermittelt ein vollständiges Spektrum menschlicher Erfahrung und menschlichen Lebens — GEMEINDE VON 7000 (12). Das gilt ebenso für eine gute Nachbarschaft, wenn auch in geringerem Maße — IDENTIFIZIERBARE NACHBARSCHAFT (14). Zur Erfüllung dieses Anspruchs müssen Gemeinden und Nachbarschaften die ganze Spannweite des Lebens beinhalten, sodaß eine Person in ihrer Gemeinde die volle Breite und Tiefe des Lebens kennen lernen kann.

 

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Die ganze Welt ist Bühne

Und alle Frauen und Männer bloße Spieler.

Sie treten auf und gehen wieder ab,

Sein Leben lang spielt einer manche Rollen.

Durch sieben Akte hin.

 

 

Zuerst das Kind,

Das in der Wärtrin Armen greint und spuckt,

Der weinerliche Bube, der mit Ranzen

Und glattem Morgenantlitz wie die Schnecke

Ungern zur Schule kriecht: dann der Verliebte,

Der wie ein Ofen seufzt mit Schmerzenslied

Auf seiner Liebsten Lider; dann der Soldat

Voll toller Flüch' und unrasiert seit Wochen,

Auf Ehre eifersüchtig, schnell mit Händeln,

Bis in die Mündung der Kanone suchend

Die Seifenblase Ruhm. Und dann der Richter

Im runden Bauche, mit Kapaun gestopft,

Mit strengem Blick und regelrechtem Bart,

Voll weiser Sprüch' und neuester Exempel

Spielt seine Rolle so. Das sechste Alter

Macht den besockten, hagern Pantalon,

Brill' auf der Nase, Beutel an der Seite;

Die jugendliche Hose, wohl geschont,

'ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden;

Die tiefe Männerstimme, umgewandelt

Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt

In seinem Ton. Der letzte Akt, mit dem

Die seltsam wechselnde Geschichte schließt,

Ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen,

Ohn' Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.

 

Aus: W. Shakespeare: Wie es Euch gefällt

Übersetzt v. A. W. v. Schlegel, 2. Aufzug, 7. Szene.

 

 

Zum vollen Ausleben jedes der sieben Alter muß in der Gemeinde jede Altersstufe als Zeitabschnitt deutlich gekennzeichnet sein. Und diese deutliche Kennzeichnung wird nur dann erlebbar sein, wenn der Vorgang des Übertritts von einer Altersstufe zur nächsten durch Feiern und Auszeichnungen begangen wird.

In einer gesichtslosen Vorstadtkultur sind dagegen die sieben Altersstufen überhaupt nicht gekennzeichnet; sie werden nicht gefeiert, der Übertritt von einem Alter ins nächste wird fast nicht mehr wahrgenommen. Das Leben wird dadurch entstellt. Die Leute können weder in einer Altersstufe Erfüllung finden, noch gelingt ihnen der Übergang von einer zur anderen. Wie die 60jährige mit grellrotem Lippenstift auf ihren Falten klammern sie sich an etwas, was sie nie ganz hatten.

Diese Behauptung beruht auf zwei Gedankengängen.

A. Der Lebenszyklus ist eine eindeutige psychologische Realität. Er besteht aus unterschiedlichen Stufen, von denen jede ihre Schwierigkeiten und ihre besonderen Vorteile hat.

B. Die Entwicklung von einer Stufe in die andere ist nicht zwangsläufig und findet tatsächlich nicht statt, wenn die Gemeinde keine ausgeglichenen Lebenszyklen umfaßt.

 

A. Die Realität des Lebenszyklus.

Niemand bezweifelt, daß das Leben einer Person verschiedene Stufen durchläuft - von der Kindheit bis zum hohen Alter. Was jedoch nicht so leicht verstanden wird, ist der Gedanke, daß jede Altersstufe eine eigene Wirklichkeit ist, mit jeweils besonderen Schwierigkeiten und Kompensationen, daß mit jeder Stufe bestimmte charakteristische Erfahrungen einhergehen.

Die geistvollste Arbeit in diesem Sinn stammt von Erik Erik-son: "Identität und Lebenszyklus", Drei Aufsätze. Frankfurt: Suhrkamp, 1966, und "Kindheit und Gesellschaft", Zürich-Stuttgart: Pan Verlag, 1957.

Erikson beschreibt die Phasenfolge, die ein Mensch während seiner Reife durchläuft, und schreibt jeder Phase eine bestimmte Entwicklungsaufgabe zu - die erfolgreiche Lösung eines bestimmten Lebenskonflikts. Der Mensch muß diese Aufgabe lösen, bevor er rückhaltlos in die nächste Phase fortschreiten kann. Wir fassen die Stufen in Eriksons Schema zusammen, ausgehend von seinen Tabellen:

  1. Vertrauen/Mißtrauen: Der Säugling; die Mutter-Kind-Beziehung; der Kampf um das Vertrauen in die Umwelt.
  2. Autonomie/Scham und Zweifel: Das Kleinkind; die Eltern-Kind-Beziehung; der Kampf, auf eigenen Beinen zu stehen, trotz der Erfahrung autonom zu werden angesichts von Scham und Zweifel. Fähigkeiten zur Selbstbestimmung zu entwickeln.
  3. Initiative/Schuld: Das Kind; die Familienbeziehung, der Freundeskreis; der Tatendrang und die Integrität des eigenen Handelns; der Lerneifer und das Bedürfnis, etwas zu machen; die durch Angst und Schuldgefühl gezügelte Aggression.
  4. Tätigkeit/Minderwertigkeit: Der/die Heranwachsende; die Beziehung zur Nachbarschaft und zur Schule; die Anpassung an die Instrumente der Gesellschaft; der Sinn für die eigene Fähigkeit, etwas gut zu machen, allein oder mit anderen, gegen die Erfahrung des Versagens und der Unzulänglichkeit.
  5. Identität/Identitätsverlust: Jugend, Adoleszenz; die Beziehung zu Gleichaltrigen und Gruppen außerhalb; die Suche nach Vorbildern für das Erwachsenenleben; die Suche nach Kontinuität des eigenen Charakters gegenüber Verwirrung und Zweifel; das Abwarten; eine Zeit der Suche und des Anschlusses an Glaubensformen und Weltanschauungen.
  6. Intimität/Isolierung: Der/die junge Erwachsene; Freunde, Sexualität, Arbeit; das Bemühen, sich in bezug auf andere festzulegen; sich im anderen verlieren und finden, gegenüber Vereinzelung und Zurückgezogenheit.
  7. Schaffenskraft/Stagnation: Der/die Erwachsene; die Einstellung zur Arbeitsteilung und die Gründung des gemeinsamen Haushalts; das Bestreben, etwas zu errichten und zu führen, etwas zu schaffen, gegenüber dem Versagen und dem Gefühl der Stagnation.
  8. Integrität/Verzweiflung: Das hohe Alter; die Beziehung einer Person zur Welt, zu ihresgleichen, zur Menschheit; das Gewinnen von Weisheit; Liebe zu sich selbst und seinesgleichen; die Sicht des Todes aus der Kraft des eigenen erfüllten Lebens; gegenüber der Verzweiflung eines nutzlosen Lebens.

 

B. Die Entwicklung durch die Stufen des Lebenszyklus ist jedoch nicht zwangsläufig.

Sie hängt davon ab, daß eine ausgeglichene Gemeinschaft da ist, eine Gemeinde, die den Hintergrund für das Geben und Nehmen dieser Entwicklung bildet. In jedem Lebensstadium haben Menschen der Gemeinschaft etwas Unersetzliches zu geben oder von ihr zu empfangen, und gerade dieser Austausch hilft der Person bei der Lösung der in der jeweiligen Stufe auftretenden Probleme. Nehmen wir den Fall eines jungen Paares und seines neugeborenen Kindes. Die Beziehung zueinander ist in jeder Hinsicht wechselseitige. Natürlich ist das Kind „abhängig" von den Eltern, deren Pflege und Liebe zur Lösung des kindlichen Vertrauenskonflikts notwendig sind. Aber gleichzeitig ermöglicht das Kind den Eltern die Erfahrung des Aufziehens und Führens, mit der sie den schöpferischen Konflikten des Erwachsenseins begegnen können.

Wir mißverstehen die Situation, wenn wir sie vereinfachen und die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes als mit dieser oder jener Persönlichkeit ausgestattet betrachten, die nun unveränderlich bleibt und auf das arme kleine Ding einwirkt. Denn dieses schwache und sich verändernde kleine Wesen bringt die ganze Familie weiter. Säuglinge beherrschen und erziehen ihre Familie nicht weniger als um e ehrt; man kann eigentlich sagen, die Familie zieht einen Säugling auf, indem sie von ihm aufgezogen wird. Welche biologischen Reaktionsmuster und Entwicklungspläne auch immer vorgegeben sein mögen, sie müssen als Möglichkeiten veränderlicher Muster wechselseitiger Regelung betrachtet werden. [Erikson, a. a.]

Ähnliche Muster wechselseitiger Regelung gibt es zwischen den sehr Alten und den sehr Jungen; zwischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Kindern und Kleinkindern, Teenagern und jüngeren Teenagern, jungen Männern und alten Frauen, jungen Frauen und alten Männern und so weiter. Und diese Muster müssen durch die ausschlaggebenden sozialen Einrichtungen und die entsprechenden Bestandteile der Umwelt zum Leben gebracht werden — also durch die Schulen, Kindergärten, Wohnungen, Café&, Schlafzimmer, Spielplätze, Arbeitsstätten, Ateliers, Gärten, Friedhöfe. . . .

Anscheinend ist jedoch der ausgeglichene Hintergrund für den normalen Ablauf des Lebenszyklus verloren gegangen. Es ist immer weniger möglich, zu jeder Zeit mit dem gesamten Lebenszyklus Kontakt zu haben. Statt natürlicher Gemeinden mit ausgeglichenem Lebenszyklus haben wir Pensionistendörfer, Schlafstädte, Teenager-Kultur, Arbeitslosenghettos, Universitätsstädte, Massenfriedhöfe, Industrieparks. Unter diesen Bedingungen hat man geringe Chancen, die Konflikte der einzelnen Altersstufen im Lebenszyklus zu lösen.

Um wieder eine Gemeinschaft mit ausgeglichenen Lebenszyklen zu schaffen, muß dieser Gedanke erst einmal zum Leitprinzip der Gemeinschaftsbildung werden. jedes Bauvorhaben, sei es ein Zubau, eine neue Straße oder ein Spital, kann für das richtige Gleichgewicht als förderlich oder hinderlich betrachtet werden. Vielleicht können die Instandsetzungspläne für Gemeinden in The Oregon Experiment, Kapitel V, eine nützliche Rolle dabei spielen.

Aber dieses Muster ist nur ein Hinweis auf die erforderliche Arbeit. Jede Gemeinde muß selbst das vorhandene relative Gleichgewicht in dieser Hinsicht untersuchen und dann. einen Entwicklungsprozeß entwerfen, der in die richtige Richtung führt. Das Problem ist überaus interessant und lebenswichtig. Weitere Überlegungen, Versuche und theoretische Arbeiten sind erforderlich. Wenn Erikson recht hat und diese Arbeit unterbleibt, könnte es geschehen, daß Vertrauen, Autonomie, Initiative, Tätigkeit, Identität, Intimität, Schaffenskraft und Integrität sich überhaupt nicht mehr entwickeln.

 

STUFE WICHTIGE RAHMEN ÜBERGANGSRITEN
     
1. SÄUGLING Vertrauen Haus, Krippe, Kindergarten, Garten Geburtsort, Einrichten der Wohnung... Weg von der Krippe, sich eigenen Platz schaffen
2. JUNGES KIND Autonomie Der eigene Platz, Bereich des Paares, Bereich der Kinder, gemeinsames Essen und Spielen Gehen, sich einen Ort schaffen, besonderer Geburtstag
3. KIND Initiative Raum zum Spielen, Eigener Platz, gemeinschaftliches Land, Nachbarschaft, Tiere Erste Abenteuer in der Stadt ...  Treffen
4. JUGENDLICHE(R) Tätigkeit Das Haus der Kinder, Schule, eigener Platz, Abenteuerspiele, Klub, Gemeinschaft Pupertätsriten, privater Eingang, sich selbst weiterhelfen
5. JUNGE LEUTE Identität Hütte, Teenager-Gesellschaft, Herbergen, Lehrling, Stadt und Region Diplom, Heirat, Arbeit, Bauen
6. JUNGE ERWACHSENE Intimität Haushalt, Bereich des Paares, Kleine Arbeitsgruppen Geburt des Kindes, Schaffung sozialen Wohlstandes, ... Bauen
7. ERWACHSENER Schaffenskraft Arbeitsgemeinschaft, Familienrat, ein Zimmer für sich selbst Besonderer Geburtstag, Zusammenkunft, Wechsel der Arbeit
8. ALTE PERSON Integrität Arbeit zu Hause, Häuschen, die Familie, unabhängige Regionen  Tod, Begräbnis, Grabstätten

 

Daraus folgt:

Sichere das Vorhandensein und das Gleichgewicht des vollständigen Lebenszyklus in jeder Gemeinde. Mach das Ideal des ausgeglichenen Lebenszyklus zum Leitprinzip für die Entwicklung von Gemeinschaften.

Das bedeutet:

  1. Jede Gemeinde umfaßt eine ausgeglichene Zahl von Menschen in jeder Stufe des Lebenszyklus, von den Kleinkindern bis zu den ganz Alten; und sie enthält auch die ganze Spannweite der Ausstattung, die alle diese Lebensstufen brauchen.
  2. Die soziale und bauliche Struktur der Gemeinde ermöglicht den rituellen Übertritt von einer Lebensstufe zur nächsten.

Eine Muster Sprache 26 LEBENSZYKLUS

 

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Für die Übergangsriten bietet sich ganz konkret GEHEILIGTER BODEN (66) an. Andere geeignete Muster für die sieben Lebensalter und die Übertrittszeremonien sind MISCHUNG DER HAUSHALTE (35), ÜBERALL ALTE MENSCHEN (40), GEMEINSCHAFT VON ARBEITSSTÄTTEN (41), LOKALES RATHAUS (44), KINDER IN DER STADT (57), GEBÄRHÄUSER (65), GRABSTÄTTEN (70), DIE FAMILIE (75), DAS EIGENE HEIM (79), MEISTER UND LEHRLINGE (83), TEENAGER-GESELLSCHAFT (84), LADENSCHULEN (85), KINDERHAUS (86), VERMIETBARE RÄUME (153), HÄUSCHEN FÜR TEENAGER (154), HÄUSCHEN FÜR ALTE (155), ERFÜLLTE ARBEIT (156), EHEBETT (187) ...

 

 

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