197 DICKE WÄNDE **

 

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... ist der Grundriß auf 1 bis 2 m genau, kommt die letzte Phase; in der die kleinsten Räume — Nischen, eingebaute Sitzbänke, Arbeitsflächen, Schränke und Regale — angelegt werden, die Wände zu bilden. Das folgende Muster kann natürlich auch in ein bestehendes Haus eingebaut werden. Wende das folgende Muster in beiden Fällen so an, daß es dazu beiträgt, den Räumen die richtige Form zu geben — DIE FORM DES INNENRAUMS (191) —, und die Raumhöhe herzustellen — NISCHEN (179), PLATZ AM FENSTER (180) und VERSCHIEDENE RAUMHÖHEN (190), — sowie auf der Außenseite der Räume die Nischen und Schlupfwinkel der GEBÄUDEKANTE (160) zu schaffen.

 

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Häuser mit glatten, harten Wänden aus vorfabrizierten Platten, Beton, Gips, Stahl, Aluminium oder Glas werden immer unpersönlich und tot bleiben.

 

In der Welt, in der wir heute leben, ist der Neubau von Häusern und Wohnungen immer mehr genormt. Die Leute haben nicht mehr die Möglichkeit, sie persönlich und individuell herzustellen. Ein persönlich gestaltetes Haus sagt einem etwas über die Menschen, die darin leben. Die in einer Türöffnung hängende Kinderschaukel spiegelt die Haltung der Eltern zu ihren Kindern wider. Ein Sitzplatz am Fenster, das auf einen schönen Busch hinausgeht, weist auf eine nachdenkliche, verträumte Person hin. Offene Borde zwischen Küche und Wohnzimmer lassen auf ein informelles Familienleben schließen; kleine verschließbare Durchreichen stehen für einen formelleren Lebensstil. Ein offenes Regal um einen Raum herum nimmt auf einer Höhe die Porzellansammlung auf, die man am besten von oben sieht; auf einer anderen Höhe und schmäler dient es dazu, die neuesten Bilder eines Photographen auszustellen; Wieder auf einer anderen Höhe könnten im Haus eines gewohnheitsmäßigen Party-Gastgebers die Drinks abgestellt werden. Eine genügend große Nische am Kamin mit genug Sitzbänken regt eine sechsköpfige Familie zum Zusammensitzen an.

Jedes dieser Dinge vermittelt uns einen Eindruck von der Leuten, die in dem Haus wohnen, weil es bestimmte persönliche Bedürfnisse ausdrückt. Und jeder braucht die Möglichkeit seine Umgebung dem eigenen Lebensstil anzupassen.

In traditionellen Gesellschaften waren diese persönlichen  Anpassungen sehr einfach zu bewerkstelligen. Die Menschen lebten lange am selben Ort, oft sogar ihr ganzes Leben lang. Und die Häuser wurden aus handbearbeiteten Materialien wie  Ziegel, Schlamm, Stroh oder Mörtel hergestellt, die von den Bewohnern selbst leicht mit den Händen umgeformt werden konnten. Unter diesen Bedingungen sorgte allein die Tatsache des Bewohnens für den persönlichen Charakter eines Hauses.

In der modernen technischen Gesellschaft gilt keine der beiden Bedingungen mehr. Die Leute ziehen oft um, und die Häuser werden immer mehr aus fabrikmäßig hergestellte Bestandteilen gebaut, wie etwa aus 1,2 m x 2,4 m großen Gipskartonplatten mit fertiger Oberfläche, Aluminiumfenstern, vorgefertigten emaillierten Stahlküchen, aus Glas, Beton, Stahl - diese Materialien eignen sich überhaupt nicht zur schrittweisen Veränderung, wie sie für eine individuelle Anpassung erforderlich ist. Tatsächlich sind die Methoden der Massenproduktion praktisch unvereinbar mit den Möglichkeiten individueller Anpassung.

Ausschlaggebend dafür sind die Wände. Glatte, harte, ebene, industriell gefertigte Wände machen es den Leuten unmöglich, ihre eigene Identität auszudrücken, weil die Identität auszudrücken, weil die Identität einer Wohnung zum großen Teil in oder nahe den Wand liegt — in den 90 bis 120 Zentimetern an den Wänden. Dort Dort heben Leute ihre Sachen auf; dort sind besondere Beleuchtungskörper; dort stehen spezielle Einbaumöbel; dort sind die  speziellen gemütlichen Nischen und Ecken, die sich einzelne Familienmitglieder eingerichtet haben; dort finden die erkennbaren, kleinen Anpassungen statt; dort können Leute am leichtesten Änderungen vornehmen und das Resultat ihres handwerklichen Könnens sehen lassen.

 

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Die Wände geben den Häusern ihre Identität.

 

Das Haus wird nur dann persönlich, wenn die Wände gebaut sind, daß ihnen jede neu eingezogene Familie ihr eigenes Gepräge geben kann — mit anderen Worten, sie müssen fortschreitende feine Anpassungen nahelegen, sodaß sich an ihnen die Vielfalt ihrer Bewohner zeigt. Und die Wände müssen so konstruiert sein, daß diese feinen Anpassungen dauerhaft sind — sodaß es im Laufe der Zeit immer mehr werden und ein immer größerer Bestand an unterschiedlichen Wohnungen vorhanden ist.

All das bedeutet, daß die Wände extrem tief sein müssen. Damit sie Regale, Vitrinen, Auslagen, besondere Lampen, spezielle Oberflächen, tiefe Laibungen, einzelne Nischen, eingebaute Sitzbänke und Ecken aufnehmen können, müssen die Wände mindestens 30 cm tief sein; möglicherweise sogar 90 cm bis 120 cm tief.

Weiters müssen die Wände aus einem an sich konstruktiven Material sein — sodaß sie, gleichgültig wie viel herausgeschnitten wird, starr bleiben und die Oberfläche geschlossen bleibt, wobei nahezu egal sein muss, wie viel weggenommen oder hinzugefügt wird.

Mit der Zeit wird dann jede Familie die Möglichkeit haben, die Wandflächen ganz allmählich und Stück für Stück zu bearbeiten. Ein oder zwei Jahre nach dem Einzug wird dann jede Wohnung ihr eigenes, charakteristisches Muster von Nischen, Erkerfenstern, Frühstücksecken, in die Wand eingebauten Sitzbänken, Regalen, Schränken, Lichtöffnungen, Bodenvertiefungen und Deckenerhöhungen haben. 

Jedes Haus bekommt dann ein Gedächtnis; die Charakteristiken und Persönlichkeiten verschiedener Menschen werden von den dicken Wänden abzulesen sein; die Häuser werden mit zunehmendem Alter immer unterschiedlicher, und der Vorgang individueller Anpassung — sowohl durch Auswahl als durch allmähliche Veränderung — kann sich frei entfalten. Die vollständige Fassung dieses Musters wurde ursprünglich von Christopher Alexander in „Thick Walls", Architectural Design, Juli 1968, S. 324-326, veröffentlicht.

 

Daraus folgt:

Denk an die Möglichkeit, in deinem Gebäude dicke Wände mit beträchtlichem Volumen - mit wirklich nutzbarem Raum - zu bauen, und nicht bloß dünne Schalen ohne Tiefe. Entscheide, wo diese dicken Wände stehen sollten.

 Eine Muster Sprache 197 DICKE WÄNDE 1

 

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Bei einer Wandstärke von 90 cm bis 120 cm stell Dicke und Volumen der Wand gemäß dem in VERBREITERN DER AUSSENWÄNDE (211) beschriebenen Verfahren her; dort, wo sie weniger beträgt, 30 cm bis 45 cm, bau sie ausgehend von offenere Regalen, die sich zwischen tiefen, senkrechten Pfeilern erstrecken - OFFENE REGALE (200), PFEILER IN DEN ECKEN (212). Entnimm die genaue Lage der verschiedenen Dinge in der Wand den Mustern, die sie bestimmen: PLATZ AM FENSTER (180), SCHRÄNKE ZWISCHEN RÄUMEN (198), SONNIGE ARBEITSFLÄCHE (199); HÜFTHOHE (201), EINGEBAUTE SITZBANK (202), HÖHLEN FÜR KINDER (203), GEHEIMFACH (204) ...

 

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